Die Macht des Verzichts

Vor allem in der indischen Tradition hat die Askese eine wichtige Funktion. Dabei ist zu betonen, dass sie nicht nur  persönlich spirituelle Vorteile hat , sondern sich auch auf die Gesellschaft auswirkt. Der Vegetarismus im Jainismus beispielsweise beinhaltet das Nichttöten von Tieren, auch weil Gewalt in jeder Form abgelehnt wird. Eine gewaltlose Gesellschaft ist etwas äußerst Erstrebenswertes. Auch der Nebeneffekt einer ökologischen und ethischen Haltung der Tierwelt gegenüber wäre damit verbunden – unabhängig davon, ob man an Wiedergeburt glaubt oder nicht. Also es geht um weniger Aggressivität durch Askese, die sich durchaus auf den Verzicht der Sexualität bezieht, die ja auch von aggressiven Impulsen durchsetzt ist. Eine so besänftigte Gesellschaft entwickelt keinen Hass gegen andere, der ja ohnehin eine Selbstschädigung ist, denn er stresst den Organismus erheblich. Bei Asketen handelt es sich um Menschen, die zu einer hohen Selbstkontrolle selbst über körperliche Funktionen in der Lage sind. Es ist damit eine Vervollkommnung des Menschseins für eine evolutionierte Gesellschaft verbunden und nicht nur eine individuelle Entscheidung ohne Auswirkungen.

Ahimsa bedeutet Gewaltlosigkeit und ist ein entscheidendes Moment in der indischen Denkweise auch seit Gandhi.  Sri Aurobindo besagtebenfalls, dass das supramentale Wissen ja nicht nur einen subjektiven Nutzen hat, sondern auch eine Veränderung des Umfeldes damit verbunden sein könnte, wenn die Prinzipien begriffen werden und gerade das Absehen von Erfüllung subjektiver Bedürfnisse Heilung verursacht. Es geht hier nicht um den Totalverzicht, der für viele unmöglich ist, aber um eine Richtungsweisung, dass weniger manchmal mehr ist. Auch die Dankbarkeit für das, was ist, nimmt zu und  die Gier nach immer neuen Produkten und Ablenkungen wird geschwächt. Die Macht des Verzichts bedeutet nicht die Macht über andere oder übernatürliche Kräfte, sondern sie beinhaltet ein besonderes und klares Bewusstsein für das Dasein. Diese Veränderung des Bewusstseins durch das supramentale Wissen kommt der Gesellschaft zugute, weil sie eine neue Orientierung in Zeiten der Bedrohung auch durch den Klimawandel erhält.

Moksa beinaltet die Befreiung oder Erlösung eines Menschen durch die Askese. Dieser Mensch ist kein Getriebener, der andere unter Druck setzt oder gefährdet. Er hat seinen Weg zur Erleuchtung gefunden, indem er verzichtet. Wem dies möglich ist, der hat ein anderes Verständnis bezüglich der Möglichkeiten menschlichen Daseins und hofft auf die Veränderung aller in eine heilsame Richtung. Er ist also ein Vorbild für eine gierige Gesellschaft, die die Realitäten schon lange nicht mehr wahrnimmt, weil sie ständig abgelenkt und unterhalten wird. Man spürt: Der Mensch soll gar nicht zu sich selbst kommen. Das ist das Paradigma der westlichen Welt. Der Mensch soll irgendwie funktionieren, auch wenn es ihn die Gesundheit und das Glück kostet. Das Glück des Verzichts kann nur der verstehen, der an die Evolution einer Gesellschaft glaubt, zu der der Mensch fähig wäre und alle in Frieden miteinander leben könnten, ohne dass alle auf eine Linie gequält werden. Wir begreifen den Nutzen des Asketen  nur dann, wenn sein Verhalten ein Maxime werden kann, die zum Nutzen aller wirkt. Schon Kant wusste, dass Völlerei und Wollust nur zur Gesetzlosigkeit führen und deswegen überwunden werden müssen. Wir dürfen uns nicht eine moralinsaure Gesellschaft vorstellen, sondern eine sehr bewusste und geläuterte, die um die Folgen ihres Handelns Klarheit hat. Dass wir also dieses supramentale Wissen aus der Askese dringend brauchen, dürfte sich von selbst verstehen. Auch wenn Indien heute ein armes Land ist, können wir von seiner Philosophie und Religion lernen und uns zu freieren Menschen entwickeln, die von sich selbst absehen können. Diese Utopie ist heute wichtiger als der technische Fortschritt.

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