Psychotherapie im 21. Jahrhundert

Immer mehr Menschen benötigen eine Psychotherapie, weil ihre Entwicklungsfähigkeit an ein Ende gekommen ist durch innere oder äußere negative Ereignisse. Über den Zugang zum Selbst müssen wir uns heute Gedanken machen

Es soll nicht verschwiegen werden, dass es ein schwieriges Thema ist, denn viele Modelle, Methoden und Metaphern sowie Konstrukte werden der menschlichen Komplexität nicht gerecht. Ein Dogma wollen wir aufbrechen und zwar jenes, das behauptet, für eine Therapie bedarf es unbedingt eines Therapeuten. Der Mensch ist zwar auf den Dialog angewiesen, weil er sich verständigen will, aber in Bezug auf die Veränderung, die Entwicklung des eigenen Selbsts braucht er vor allem Einsichten und Erkenntnisse, die er auch in der Selbsterforschung gewinnen kann. Freud hat noch behauptet, dass die Abwehrmechanismen den Zugang zum Selbst versperren und die nur durch einen erfahrenen Therapeuten beseitigt werden können. Aber durch die kontinuierliche und ernst genommene Bewusstseinsarbeit gibt das Unterbewusste nach und nach seine Motivationen frei, so dass sie bearbeitet werden können. Sicher freuen wir uns über gelungene Diskurse und Dialoge, aber sie sind eher eine Folge der Selbstarbeit und der Selbstherapie, die der eigenen Wahrheit und Komplexität am nächsten kommt.  Wir können ein Leben lang zum Therapeuten rennen und doch keinen Schritt weiterkommen, weil Therapeuten nur bestätigen und spiegeln, aber den Bewusstseinsprozess nicht wirklich in Gang setzen, dass ich mich um mich selbst kümmern muss, wenn ich Fortschritte machen will.

Bewusstseinsarbeit ist der Dialog mit sich selbst für eine bessere Verständigung mit anderen

Lawrence LeShan meint in seinem Buch Beyond technique, dass ein Therapeut seinen Patienten lieben müsse, um ihm wirklich helfen zu können. Nun ist das faktisch schlichtweg selten machbar. Der Patient wäre von diesem Vermögen abhängig. Gerade das sollte man aber vermeiden. Der Patient reift nicht durch die Liebe, sondern durch Erkenntnisse und Bewusstsein. Liebe bestätigt nur das Vorhandene, das aber gerade pathologisch sein kann bzw. ein Unbehagen verursacht. Die Frage ist, ob Einsichten durch Dialoge eher eintreten als durch die Bewusstseinsarbeit? Die Frage muss man mit einem Nein beantworten. Da die Selbsttherapie eher eine schriftliche ist in Kombination mit Kontemplation, wird der Gegenstand ihrer Untersuchung konkreter und offensichtlicher und kommt in einem Gespräch vielleicht auch nie zur Sprache, da wir hier auch immer mit Selbstdarstellung befasst sind. Aber um die geht es nicht bei der Selbsttherapie. Hier wollen wir erfahren, was mich als menschliches Wesen ausmacht, wo meine Stärken und meine Schwächen liegen und wo ich Entwicklungsbedarf habe. Dafür muss ich oft tief liegende Zusammenhänge erkennen. Nur das Resultat kann ich dann mitteilen, vorher bleiben sie unbewusst und können nicht geäußert werden. Eigentlich kennt der Mensch sich sehr gut, er hat nur verlernt, genau hinzusehen und Worte zu finden für sein Elend. Will er nur bedingungslos geliebt werden wie ein Kind, wird er nicht wirklich reifen und einen Gewinn aus seinem Reifungsprozess ziehen, immer mehr Dinge zu durchschauen. Es bedarf dafür eines Dialogs primär  mit sich selbst für eine bessere Verständigung.

Intensive Bewusstseinsarbeit ermöglicht Emergenz

Wir wenden uns also phänomenologisch den Problemen an sich zu und lassen alle äußeren Herangehensweisen außer Acht, denn die verzerren oft nur die Lage. Kategorien aller Art werden wirkungslos, wir nähern uns dem Selbst ohne Voreingenommenheiten und Denkkonstrukte. Wenn es wieder erblühen soll, muss es ganz bei sich selbst sein dürfen und so die Fähigkeit erhalten, sich zu korrigieren und auch kritisch zu betrachten, was ein Kind ja nun eben gerade nicht kann. Wir als erwachsene und denkende Menschen haben dieses Vermögen und können davon auch nur profitieren. Vieles ist schmerzhaft, aber dagegen mobilisieren wir die Belohnungsmöglichkeiten. Wir tun dann das, was uns Freude macht, nachdem wir uns und auch andere durchschaut haben. Nur hier kann sich Wachstum ereignen und nicht im Spiegel des Narzissmus, der ja Ausdruck einer Unreife ist und sich nicht auseinandersetzen will. Andere Meinungen werden unsachlich sofort abgetan. Alles drängt hier auf Homogenisierung, was nicht der Realität entspricht, denn die ist kontrovers und heterogen. Wer steckengeblieben ist, schafft den Diskurs nicht und entwickelt lauter Abwehrstrategien dagegen und lässt sich von allerlei Emotionen beuteln. Bin ich aber in der Lage, mich selbst klarer zu sehen, ist auch eine neue Sachlichkeit möglich und viele Unstimmigkeiten erübrigen sich. Letztlich wollen wir einen klaren und aufgeklärten Geist besitzen, der Problemlagen rechtzeitig erkennt und darauf reagieren kann. LeShan macht auch auf den Unterschied zwischen Symptome kurieren und heilen aufmerksam. Heil werden wir über das ganze Bewusstsein, woran wir täglich und ein Leben lang arbeiten müssen, um in einen Zustand des Glücks zu geraten, durch das wir uns dann verständigen können, um uns zu bestärken. Volles Bewusstsein schafft Klarheit, die eben auch beglückt, auch wenn die Komponenten alles andere als glücksbringend sind. Emergente Strukturen werden hier wirksam, die von den Fesseln des Unterbewusstseins befreien. Möglicherweise ist unser Gehirn und unser Geist so konzipiert.

Lawrence LeShan: Beyond Technique. Psychotherapy for the 21st Century. New Jersey 1995

Bei sich sein

Um ganz bei sich anzukommen, müssen wir die Aufmerksamkeit aus der Außenwelt hinlenken auf das Selbst nicht im Sinne einer Selbstbespiegelung, sondern einer Selbstaufmerksamkeit, die befreit von den Zumutungen und den Raum öffnet für den Wandel und die Zukunft

Karl Marx war noch sozialethisch der Meinung, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt. Aber wir haben von den Buddhisten gelernt, dass das nicht stimmt: Das Bewusstsein bestimmt das Sein. Dabei geht es nicht um den kranken Narzissmus, sondern um das reflektierte Selbst, das sich relativieren und korrigieren kann. Die Erwartungen, die wir haben und die Erwartungen, die andere an uns stellen, werden in Frage gestellt. Ich lasse los, um mich den Verletzungen zu entziehen, die unpassende Verhältnisse mir zufügen wollen, wenn ich sie nicht durchschaue und in ihre Grenzen weise. Und ich muss Grenzen setzen, um meine innere Freiheit zu sichern, die ich benötige für die eigene Wandlungsfähigkeit. Auch konstruktive Auseinandersetzungen mit anderen können ausgleichen und so in die eigene Mitte führen wie jedes kritische Selbstdenken auch bezüglich der eigenen Person. Ich will nicht den ungerechtfertigten Erwartungen anderer ausgesetzt sein und stelle das klar über eindeutige Aussagen. Ich  nehme den anderen wahr, aber ich sage auch, dass ich diese Anliegen nicht erfüllen kann. Mein Bewusstsein korreliert nicht mit einem anderen Bewusstsein, das sich nicht erforschen will und sich nicht selbst durchschaut. Wenn ich die Selbsterforschung  leiste, bleibt das auch eine Forderung an andere, die aber nur auf Einsicht beruht und kein Zwang ist.

Wahres Denken ist das Zweifeln und die Kunst, nicht zu verzweifeln

Wie wichtig diese innere Freiheit ist, merken wir, wenn wir diese Mitte verlieren durch die Verletzungen, die andere uns zufügen. Wahrheit verletzt nicht. Die Lüge verletzt und die fehlende Aufrichtigkeit. Wo jemand die Wahrheit sagt, da findet Leben statt, da kann sich etwas bewegen und sich zum Besseren ändern. Bin ich überall auf Bestätigung aus und stelle mich dauernd ins Licht, da fehlt der Raum für den Wandel. Der Mensch bleibt stecken und bespiegelt sich nur noch selbst. Wachstum ist kein Zufallsprodukt, es beinhaltet Arbeit an sich selbst. Bestenfalls haben wir Mitarbeiter, aber wir sollten uns davon nicht abhängig machen. Was nicht ist, das sollte uns nicht verzweifeln lassen. Alles, was wir brauchen, finden wir zunächst in uns selbst. Das Vertrauen, dass sich auch die Außenwelt ändert, sollten wir kultivieren. Hier hilft der Glaube und die Zuversicht in die Wirksamkeiten allen Bemühens. Ich werde gesehen und sehe die neuen Möglichkeiten. Es helfen auch nicht die langweiligen Mantras bezüglich einer Vergangenheit, sondern der Wille, dem wahren Wesen des Daseins zu begegnen ohne Maske und Verkleidung. ich muss mich nicht als etwas darstellen, was ich nicht bin und ich bin, was ich denke – kein Aufschneider und Blender, sondern ein Mahner zu mehr Wahrheit und Aufrichtigkeit, was immer den Zweifel impliziert. Das ist kein Widerspruch. Wer wirklich denkt, relativiert sich und seine Leistungen. Hier finden wir eine Ebene der Begegnung. Unterschiede im Sein heben sich hier auf. Dafür brauchen wir alle ein höheres Bewusstsein, das keine materiellen Determinanten akzeptiert. Es ist frei und lehnt alle Determinierungen auch die über Verletzungen ab. Wie sehr Verletzungen determinieren, kann man daran sehen, dass Menschen daran erkranken können. Und die schlimmste Verletzung, die uns angetan werden kann, ist die der Ignoranz. Ausgrenzung hat entwicklungsgeschichtlich in den Tod geführt. Dieses phylogenetische Programm müssen wir aber unwirksam machen, indem wir es durchschauen, uns bewusst machen.

Jenseits aller Bestätigungen und Eitelkeiten

Ich überlebe also, auch wenn mich jemand ausgrenzt aus einem Kontakt. Kontaktverweigerungen beruhen auf einer Unfähigkeit, die Änderung einer Lage herbeizuführen oder ein Bedauern zu äußern. Sie ist die ultimative Distanzierung und macht uns selbstverständlich fassungslos. Hier will jemand auf der Kluft bestehen, die aber überwindbar ist  durch die Bewusstseinsarbeit, die so vieles relativiert, was wir für absolut notwendig betrachten. Soziale Zwänge, die übersehen, dass es der Geist ist, der uns vereint und damit ein Bewusstsein über wirkliche Notwendigkeiten. Verbinden kann uns die Einsicht, dass jede ernst gemeinte und wahrhaftig betriebene Auseinandersetzung ein Gewinn ist. Hier geht es nicht um primitive Bestätigungen, sondern um den Impuls zum Weiterdenken bis in die Sphäre einer Spiritualität hinein, die uns demütig machen sollte. Wir sind nicht vollkommen, aber wir sind auf dem Weg. Selbstbeweihräucherungen auch durch andere stehen wir eher kritisch gegenüber, denn der Mensch irrt nur allzu leicht und verliert das Maß. Die weltlichen Kriterien sind gültig auf ein Man, aber nicht in Bezug auf das Selbst, das sich dort zurückzieht, wo es vorsätzlich nicht gesehen und verunstaltet wird durch ein Nichtwahrnehmen. Es gibt Vergebliches im Reich der Eitelkeiten, nicht aber im Reich des Bewusstseins. Hier kommen wir in Verbindung nach der Beseitigung des Schleiers eines nicht reflektierten Ichs, das sich nicht bewegt. Ich bin nur dann ein guter Kommunikationspartner, wenn ich nicht ständig glänzen will, sondern auch den Mangel, das Defizitäre sehen und benennen kann. Manch einer treibt auch das zu weit (ein weibliches Verhalten)  und es muss hier wieder gegengesteuert werden. So kommen wir ins Gleichgewicht und gewinnen den heilen Raum zurück, der Schwächen und Stärken erkennt und sich nicht hinter einer Fassade verstecken muss. Mentale Gesundheit kann ein langer Prozess sein, wenn man sie durch fehlende Vorsicht verloren hat. Wir müssen zwar positiv denken, können aber nicht alles schön reden und überbewerten. Ohne eine reife Spiritualität können wir dieses Gleichgewicht und diese Ausgeglichenheit kaum erreichen. Alle Bewusstseinsarbeit führt in ein spirituelles Leben und manchmal eben auch in ein Kloster.

Die Pathologie des Normalen

Das Beklagen über die Entwicklung unserer Kultur hilft wenig. Es ist Zeit, neue Ideen in die Tat umzusetzen, damit wir wieder im Einklang leben mit der Natur und ihren Gaben auch für eine gesündere Entfaltung

Beim Lesen von Erich Fromms Anatomie der menschlichen Destruktivität fällt auf, dass er reaktionäre Argumente benutzt, um die Nekrophilie Adolf Hitlers zu begründen. Ein Schulversagen als Ausgangspunkt für seine Grausamkeit zu thematisieren, verkennt, dass das wilhelminisch-preußische Schulsystem der Angst, der Selektion, der Bewertung und Benotung  kein guter Start ins Leben ist. Fromm hätte ein Schulsystem, das demütigt, kritisieren sollen und nicht die Faulheit von Hitler als Grund für sein Versagen angeben. Nach allem, was wir heute über den Menschen wissen, sollten wir die Zwangssysteme aufgeben und Systeme des Ermöglichen etablieren. Es handelt sich nicht um eine Utopie, sondern wie das Beispiel Waldorfschule zeigt, um machbare Veränderungen für eine bessere Entfaltung der Persönlichkeit, die sich nicht überall und ständig entschädigen muss für das, was man ihr antut. Hitler ist ein gutes Beispiel für die Folgen der Pathologie des Normalen, die entweder krank macht oder Menschen entarten lässt. Wir haben diese Neigung noch lange nicht überwunden und tun nichts für die Abschaffung von virulenten Selektionssystemen, die durch Abwertung die gesellschaftliche Hierarchie etablieren. Dieses hohe Potenzial der Unzufriedenheit kann man sich sparen. Wir wären alle gesünder, wenn wir über Interessen und Neigungen sowie Begabungen lernen würden und so zu ganzen Menschen heranreifen, die so manchen Sturm im Leben dann auch überstehen. Der ewige Wettbewerb hat uns in eine globale Katastrophe hineinmanövriert und trotzdem findet kein Umdenken statt. Die Angst geht um und die war noch nie ein guter und gesunder Berater.

Notwendige Reformen sind keine Utopie

Wir sind immer noch dabei, Wirklichkeiten zu schaffen, die nicht lebenswert sind, die sadistisch motiviert sind und humane Entwicklungen verhindern. Es gibt heute Unternehmen, die ganz anders funktionieren als herkömmliche. Sie beuten den Menschen nicht aus, leben von der Motivation des Einzelnen und machen nicht gnadenlos Profite auf Kosten anderer.  Aber das sind noch Ausnahmen, denn der Mensch wird auf den uneinsichtigen patriarchalen Wettbewerb gedrillt, so dass wir angehalten werden, ein Scheitern als etwas Normales zu betrachten. Aber wir können eine Welt schaffen, in der es eigentlich gar kein Scheitern gibt – nicht in der Schule, in der Ausbildung oder der Universität und nicht im Beruf.  Der Mensch sammelt dann eher Erfahrungen über sich und die Umwelt und wächst an ihnen, anstatt zu erkranken und ganz auszufallen. Es wäre so leicht, auf ein notenfreies Lernen umzuschalten. Aber man schielt angstvoll nach China, wo der Drill an der Tagesordnung ist und alles gleichgeschaltet wird. Warum fällt es so schwer, krank machende Strukturen aufzugeben für ein gesünderes und entwickelteres Leben? Welche Interessen halten ein überaltetes System aufrecht, das nicht mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen korreliert?  Es ist der Wille zur Macht und die Angst vor der glücklichen Freiheit der Menschen, die nicht nur konsumieren und ausbeuten, sondern das Leben wertschätzen und all das, was diese Erde freiwillig hergibt. Dieses Gleichgewicht ist so fundamental ruiniert, dass sich die Verhältnisse verschlimmern könnten. Gute Ernährung gibt es dann nur für die Reichen und der Rest erleidet den Mangel. Schon die Verteilung der Vermögen auf dieser Erde ist erschreckend. Einige Wenige besitzen so viel wie die gesamte Menschheit und zwingen diese zur Anpassung an krankmachende Leistungssysteme. Wir beginnen langsam, uns zu schämen für diesen vermeintlichen Wohlstand, der bei näherem Hinsehen keiner ist. Alte Menschen werden wieder zu Kindern, weil sie in einer Gesellschaft leben, in der nur die vermeintlich Produktiven zählen.

Vom Niedergang einer Kultur, die kein Verhältnis mehr zur Natur hat

Wir haben aus den friedlichen Zeiten wirklich nicht das Beste gemacht. Die Überflutung mit Technologien, die nur vom Leben abhalten und ablenken, soll darüber hinwegtäuschen, dass wir den Weg in eine neue Moderne verpasst haben. Anstatt auf künstliche Intelligenz zu hoffen, sollten wir den Menschen neu entdecken und das, was er sein könnte, wenn er ohne Gewalt, ohne Zwang, ohne Angst, ohne ständige Bewertung aufwüchse. Wenn man sich die natürliche Kreativität und Persönlichkeit von Menschen ansieht, die mit Homeschooling aufgewachsen sind, wird das Defizit deutlich. Sie haben ihre Wurzeln nicht vergessen und lassen sich nicht einpferchen in zu enge Rollen, die dann auch noch in die Krankheit führen, wenn sie nicht passen. Ein offenes System des Ausprobierens und immer wieder Anfangens in der Suche nach dem richtigen Platz im Leben wäre wünschenswert. Das zynische Aussortieren von Menschen bezeugt den Niedergang einer Gesellschaft, die viel Wissen anhäuft, es aber überhaupt nicht umsetzt. Denken und Handeln stehen in keinem gesundem Verhältnis. Wir müssten es besser wissen, aber wir scheitern an der Praxis. Was heute Normalität ist, kann morgen schon ein System der Grausam- und Unerträglichkeiten sein. Die vielen Erkrankungen sprechen dafür.  Vielleicht waren sie zu optimistisch und mussten eine Realität begreifen, die ihren erarbeiteten Werten nicht entsprach. Wir sind es, die Wirklichkeiten erzeugen, die oft nicht sinnvoll sind und schon gar nicht lebenswert. Wir entdecken viel Neues, belassen es aber beim Alten oder lassen alles Neue wieder von der Bildfläche verschwinden, weil sich keine Lobby findet. Eine bessere Welt kann es nur geben, wenn wir bei den Wurzeln anfangen, Dinge zu verändern wie dieses veraltete Schulsystem, das sich auf ein völlig obsoletes Menschenbild bezieht. Das Schulsystem des Ermöglichens und nicht des Demütigens sollte eine neue Zeit einleiten. Wann es soweit ist, bestimmen wir. Und wir generieren bessere Menschen, wenn jeder seine Chance erhält.

Erich Fromm: Die Pathologie der Normalität. Zur Wissenschaft vom Menschen. Open Publishing

Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität. Hamburg 1979

Endlichkeit versus Unendlichkeit

In der Natur ist alles endlich und determiniert durch Raum und Zeit und Kausalketten. Aber der Mensch kann die Unendlichkeit denken und findet sie im Kosmos bestätigt

Ludwig Wittgenstein meinte, dass die Lösung des Rätsels des Lebens in Raum und Zeit außerhalb von Raum und Zeit liegen müsse. Angesichts der Klimakrise, des Artensterbens sowie der Ausbeutung und Vermüllung des Planeten müssen wir einerseits die Endlichkeit der Natur begreifen und danach handeln. Andererseits brauchen wir den Begriff der Unendlichkeit für unsere Gesundheit und unser geistiges und spirituelles Wachstum. Damit wären viele Heilungen auch nur möglich, wenn wir die kausalen Zusammenhänge auch wieder überwinden. Kausale Zusammenhänge müssen zwar erkannt werden, aber man darf hier nicht stehen bleiben, sondern muss diese Zusammenhänge überschreiten durch eine Vorstellung des Unendlichen in Gott und Kosmos. Ohne diese Überwindung alles Kausalen bleibt alles determiniert und damit oft auch unlösbar. Alles Raumzeitliche muss also geöffnet werden durch ein Denken des Unendlichen als notwendigen Begriff für unser Seelenheil. Diese Dimension lässt sich nicht auf die Natur übertragen und man muss hier auch deutlich differenzieren, denn in Bezug auf die Natur sind wir zum schützenden Handeln aufgerufen. Verantwortung kann auch  nur dort stattfinden, wo etwas unter unseren Schutz fällt als denkende Menschen in einem Darüberhinaus des Betrachtens.

Ich darf hoffen angesichts einer prinzipiellen Offenheit

Der Mensch ist teilweise ein Naturwesen, aber eben auch ein Geistwesen, das sich mit der Unendlichkeit des Kosmos verbinden kann. Hier liegt auch der Grund für unsere Freiheit, die sich nicht eingrenzen lässt. Diese Teilhabe am Unendlichen macht uns zu einer Entität, die sich nicht im Funktionalen erschöpft. Schon Aristoteles (meines Erachtens auch schon bei den Vorsokratikern wie Anaximander) entwickelte zwei Unendlichkeitsbegriffe: das aktual und das potential Unendliche, das unseren Geist ausmacht, der sich eben nicht auf das Gehirn reduzieren lässt. Wir wissen wenig über unsere mentalen Kräfte, die aus sich heraus wirksam werden können und alle Determinierungen übersteigen. Damit ist alles Gewordene nicht etwas Endgültiges und Unerschütterliches. Wir müssen uns damit nicht identifizieren. aber wir dürfen auch die Verantwortung gegenüber der Natur nicht aufgeben. Die Unfassbarkeit des Universums darf uns nicht davon abhalten,  verantwortungsvoll zu handeln und möglichst so zu leben, dass wenig Schaden verursacht wird. Der Punkt der Irreversibilität bezieht sich nur auf die Natur, nicht aber prinzipiell auf den Menschen. Hier gibt es vieles. was uns geschadet hat, aber unser unendlicher Geist vermag uns daraus zu befreien für ein sinnerfülltes und prinzipiell offenes Leben. Wo etwas sinnentleert erscheint, hat der Geist sein unendliches Potential verloren und bewegt sich nur noch in Zwängen und Kausalitäten. So ist es ratsam, sich immer wieder mit der Idee des kosmischen Unendlichen zu verbinden, um unser Dasein zu erweitern durch neue Perspektiven. Die Unendlichkeit des Geistes liegt auch nicht außerhalb unserer Erkenntnis, denn die Wissenschaft der Mathematik operiert mit ihr.

Es geht um ein Anfangen

Wir müssen also deutlich unterscheiden, ob es um die Natur geht oder um unseren Geist, um alles Immaterielle. Die Quantenphysik kann hier eine Brücke schlagen und die Entitäten miteinander versöhnen. Harald Welzer schreibt in seinem Buch Nachruf auf mich selbst, dass wir aufgrund der Endlichkeit der Natur das Aufhören lernen müssen. Meines Erachtens geht es vielmehr um ein neues Anfangen unter veränderten Randbedingungen einer zunehmenden Verantwortung, die aber ohne Hoffnung, die sich aus dem Unendlichen speist, nicht zu haben ist. Auch das Sterben fällt leichter, wenn wir begreifen, dass alles Geistige nicht sterben kann und es deswegen auch ratsam ist, sich mit dem unendlichen Kosmos bewusstseinsmäßig zu verbinden, auch um aufgetretene Probleme so zu lösen, so dass ein Neuanfang immer möglich wird und wir uns so besser verständigen können. Ein Teil von uns muss sterben, ein anderer existiert weiter. Diese Ressource verringert die Wirkkraft negativer Ereignisse, die unser Leben so schwierig machen. Von der Idee des Unendlichen aus kann ich verzeihen – mir selbst und anderen. Bleibt alles kausal determiniert, verfalle ich dem Fatalismus und kann das Leben nicht in seiner vollen Präsenz ergreifen. Die vielen kleinen Tode, die wir durchlitten haben, führen in ein neues Leben von erwachten und voll entwickelten Menschen, die die Welt und die Natur erhalten wollen gegen den Sog der Destruktivität. Dafür bedarf es eines unendlichen Geistes, der in einer endlichen Hülle steckt, die aber nicht determiniert, wenn ich sie durchschaue. Die kann er verlassen, wenn er das dann üben möchte in Meditation und Kontemplation sowie durch die Erlangung einer Gestaltungsmacht.

Reine Analyse hat eine kafkaeske Note

Wir sehen, dass wir über die reine Analyse keine Heilung finden. Zwar verstehen wir die Zusammenhänge, aber wir kommen nicht über sie hinaus. Gerade aber die Überschreitung der kausalen Raumzeit öffnet den Raum für die neue Perspektive und für das Setzen einer neuen und heilsamen Ursache aus Freiheit, wie dies schon Immanuel Kant anmerkte gegen ein Totlaufen der Ursache-Wirkungsgesetze, die immer nur naturhaften Charakter haben. Wir bewegen uns  so in die Sackgasse und finden keinen Ausweg. Dieser Ausweg aber zeigt sich im Spiegel des Geistes mit der kosmischen Unendlichkeit, die Freiheit möglich macht und somit alle Kausalzusammenhänge auch wieder auflösen kann. Wenn etwas ganz und gar schief gelaufen ist im Leben, sind eben Fehler und Irrtümer unterlaufen, die wir durch reine Analyse nur zementieren und so die Selbstheilungskräfte aussetzen. Die Wiedergeburt, die Walter Schweidler in seinem gleichnamigen Buch für möglich hält durch Kunst im umfassenden Sinn des Lebens als Kunstwerk, kann nur im Heraustreten aus den gewordenen Zusammenhängen möglich werden. Ihr Verstehen wird dann zur Retraumatisierung, wenn ich nicht schon eine erweiterte Perspektive erarbeitet habe, die mir erlaubt, mich zu distanzieren und mich als freien Menschen zu begreifen, der nicht mit Kausalereignissen identisch ist. Ich bin weit mehr als das und habe dadurch auch die Energie, in die Potentialität zu driften, die alles Geschehene relativiert und neutralisiert – nicht unbedingt durch einen Lernprozess, aber doch in der Einsicht, dass mein Geist meine Persönlichkeit definiert und keine naturhaften Kausalvorgänge. Hier liegt die Lösung für ein Fehlverstehen der Relevanz von kausalen Erkenntnissen. Es ist nicht die Kausalität, die mich zum Menschen macht, sondern die Freiheit zum Neubeginn. Unser Gehirn ist darauf angelegt und wartet nur auf den Impuls für die Transformation der Heilung.

Walter Schweidler: Wiedergeburt. Freiburg/München 2020

Harald Welzer: Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens. Frankfurt am Main 2021