Lebenswandel gegen gesellschaftliche Spaltungen

 

Es dauert oft Jahre und Jahrzehnte, bis man unerlöste Menschen entlarvt und enttarnt hat. Das damit verbundene Unvermögen der Unerlösten müssen andere austragen und werden hier nicht selten krank. Manche halten die Klugheit für die höchste Tugend, sind aber selbst nicht in der Lage, wirklich klug zu handeln. Eines der dümmsten Verhaltensweisen ist es, Dinge nicht auszusprechen, den Dialog zu verweigern, denn der schafft Klarheit und gute Orientierung, vor allem aber nimmt er dem Anderen nicht die Würde. Hintergrund hier ist fehlende Einsicht, sind fehlende Erkenntnisse auch in Bezug auf das eigene Selbst. Wir Menschen brauchen die gute Verständigung, den offenen Dialog für bessere Orientierungen. Wer eine Dauerbruchstelle schafft, der macht sich schuldig und muss sich auch die entsprechenden Vorwürfe gefallen lassen. Wir haben es nicht nur mit Gleichgesinnten zu tun, die Welt ist divers, aber wir dürfen den Dialog nicht aufgeben. Dieses höchst defizitäre Verhalten ist Ursache für viele Missverständnisse und Zerwürfnisse, die Menschen dann unnötig belasten. Wer die Wahrheit liebt, der verständigt sich. Wer aber schon die eigene Wahrheit nicht erträgt, lässt andere für seinen Mangel büssen. Einbildung ist meistens das Gegenteil von Bildung. Die Dialogverweigerung ist eine sehr dunkle Schattenseite solcher Akteure und neigt zur Unterstellung des eigenen Abgrundes auf andere. Dahinter verbirgt sich ein aggressiver Vernichtungswille, eine Negation des Anderen, wodurch davon Betroffene zurecht in Panik geraten. Am Anfang war das Wort und das ist auch in schwierigen Lagen Gottes Wille. Wer den Dialog verweigert, ist kein Christ, sondern eine gestörte Seele, die negative Tatsachen schaffen will, auch wenn die unangemessen sind. Meistens betrachtet sich dieses rigide Mangelwesen selbst  als äußerst konsequent. Faktum hier ist, dass es in der Tat sehr verletzende Konsequenzen hat. Niemand möchte im kantischen Sinne so behandelt werden. So etwas tut man nicht einmal seinem ärgsten Feind an.

Die bigotte und spießige Biedermännerwelt (seltener ist es die Biederfrau!) lässt vermutlich keine Wahrheitssprache zu, denn man möchte etwas sein, was man eigentlich nicht ist und das Aufrechterhalten einer Fassade, ja einer Lebenslüge führt zu sehr störenden Verhaltensweisen der Ignoranz auch im Politischen. Menschen wird versichert, wenn sie nur fleißig arbeiteten und konsumieren, werden sich auch alle anderen Probleme von selbst lösen. Dass das gefährliche Demagogie ist, sollte uns angesichts der globalen und ökologischen Katastrophen endlich bewusst werden.  Das Ding am Laufen zu halten reicht heute für die Selbstvergewisserung nicht mehr aus. Und viele Berufe führen zu einem seltsamen Verderben des Charakters. Menschen bemerken den schleichenden Betrug, die Zerbrechlichkeit ihrer Gewissheit und projizieren ihre Ängste in andere hinein, die zu Feindbildern stilisiert werden. Diese enorme Schwäche führt zu massenhaften Spaltungen in der Gesellschaft, die die Politik oft noch unterstützt. Wozu sich also noch verständigen, wo doch für manchen klar zu sein scheint, wer es wert ist und wer eben nicht. Der Mensch geriert sich zum Richter über andere, anstatt sich auseinanderzusetzen über das, was ist und was wahrscheinlich kommen wird – persönlich, gesellschaftlich und politisch.  Die Sensibilität ist längst verloren gegangen und die Normopathie treibt längst ihre giftigen Blüten.

Jesus Christus hat uns gelehrt, den Balken im eigenen Auge zu sehen und nicht nur den Balken bei anderen. Wir sind beschränkte Menschen mit sehr beschränkten Einsichten, deshalb müssen wir uns verständigen und dürfen auch kritisieren, was uns negativ  erscheint und einfach nicht gewollt werden kann. Indem wir kritisieren, nehmen wir den Anderen noch ernst. Verweigern wir den Diskurs, verletzen wir elementar und halten den Unfrieden in Gang. Solche Menschen haben kein Interesse an Lösungen. Ihre sichtbare Unerlöstheit ist ihr Schicksal, das sie anderen aufbürden, ohne dass Reifung und Weisheit je an diese Stelle treten würden. Sie wissen vermeintlich, wo es sich lohnt und wo eher nicht. Eigentlich spielen sie keine besondere Rolle, aber sie wollen demütigen gegen jeden affirmativen Versuch. Sie wollen den Diskurs nicht, weil sie einsehen müssten, wo sie sich selbst andauernd täuschen. Wandel geschieht nur unter besonderen Bedingungen wie meistens in einer Offenbarung. Uns bleibt also nichts anderes übrig, als solche Menschen, die sich von einer völlig veralteten Politik beweihräuchern lassen, zu marginalisieren. Das widerstrebt zwar jedem gut entwickelten Menschen, aber das Unschädlichmachen solcher Zeitgenossen durch das Erkennen ihrer eigentlichen Bedeutungslosigkeit ist eine elementare Fähigkeit. Sie behindern Wachstum und Entwicklung, weil sie selbst keine Entwickelten sind, was sich immer auch deutlich zeigt. Wer glaubt, dass Gott die Selbstaufgabe will, der widerspricht der Liebe Gottes, die an keine Bedingung gebunden ist. Wer in Gott lebt und den heiligen Geist erfährt als das, was er ist nämlich als Freiheit. Liebe und Glück, der kann auch die horizontalen Verstörungen und Fehlinterpretationen auch der Bibel auflösen und sich vertikal sicher und gut verorten. Wir sind hier in der Lage, die Wahrheit zu äußern und die Illusionen und Lebenslügen aufzugeben.  Es ist das Ende der Instrumentalisierungen und Verfremdungen, sie haben keine Macht mehr über uns. Gottes Schutz ist unsere Sicherheit und die Diebe im Tempel gehen dann meistens von selbst.

Seltsame Übereinstimmungen

Bei längerem Nachdenken offenbart sich ein Zusammenhang, der vordergründig als paradox erscheint: Heidentum, also irrationaler Atheismus, hat viel gemeinsam mit religiösem Fundamentalismus, denn beide Ansichten weisen auf einen beschränkten und hoch determinierten Verstand hin. Ulrich Schnabel äußert das Problem in Bezug auf den religiösen Fundamentalismus, der die Bibel wortwörtlich nimmt, wie folgt: “ Doch wer solche Erzählungen wortwörtlich nimmt und sie nicht als metaphorische Berichte von schwer fassbaren Erscheinungen versteht, begeht denselben Fehler wie viele Fundamentalisten. Beide reduzieren Religion auf ein System von dogmatischen Lehrsätzen, an die man strikt zu glauben hat. Sie verkennen jedoch das eigentliche Wesen der Religion als einer Kraft, die den Menschen gerade über diesen Horizont der eigenen, beschränkten Erkenntnisfähigkeit hinauszuführen versucht“ (S. 23). Das ist eine elementare Erkenntnis bezüglich des Sinns von Religion als einer Möglichkeit, Differenzen zu erkennen, sie aber nicht dafür zu nutzen, Menschen zu verdammen oder auszugrenzen, sondern die Hoffnung auf Wandel und Veränderung wach zu halten. Nächstenliebe beispielsweise ist der Dialog, auch andere an eigenen Einsichten teilnehmen zu lassen. Dies gilt besonders für tiefe religiöse Erkenntnisse, die wir als Erleuchtung bezeichnen.

Das Unterscheidende zwischen Heidentum und Religion liegt darin, dass der Eine sich selbst verherrlicht und der Andere sich aus Ichschwäche vor „idealisierten Autoritäten der Eigengruppe“ (S. 138f) unterwirft. Die Gemeinsamkeit wiederum liegt im Misstrauen und in der Feindseligkeit gegenüber Andersdenkenden. Strenge Vertretung eines Glaubenssystems und dessen Ahndung bei Übertretung ist zutiefst unchristlich und trägt damit heidnische Züge. Es ist zu vermuten, dass beide Orientierungen eigentlich von spirituellen Einsichten keine Ahnung haben und deswegen dogmatisch und ausgrenzend reagieren. Ihr Urteil ist das letztgültige, Zweifel an der eigenen Wahrheit werden so eliminiert. Dieses Fehlen von spirituellen Erfahrungen der Emergenz und der Transzendenz wirkt sich dann entsprechend trennend und verfehlend aus. Man kann fast sagen, dass die Wahrheit nicht durchscheint, wenn ich nicht in der Lage bin, den höchsten Standpunkt einzunehmen. Das Leben bleibt seltsam flach und ideologisiert sich gegen andere Ideologien.

Es geht nicht um einen unbegründbaren Mystizismus, sondern um Erfahrungen von Einheit und Sinn. Von hier aus können ungute Verstrickungen und Ärgernisse aufgelöst werden. Auch der Nährboden für Traumata kann hier überwunden werden. Ich durchschaue die Defizite bei anderen wie die eigenen und bin in der Lage, mich der Wahrheit anzunähern, ohne dass mich das aus der Bahn wirft. Ich löse ungute Zusammenhänge auf durch ihre Erkenntnis, die den Wandel einleitet. Für diesen Wandel benötige ich diese spirituelle und religiöse Energie, die mich zu einem authentischen Menschen macht, der sich als wirksam erlebt. Man muss also ganz zu sich gekommen sein, um wieder Abstand von sich zu erlangen. Das Leugnen einer höheren Macht und Energie hat aber dieselben Konsequenzen wie das Erleben eines Gottes als Richtender und Strafender: Das geistig-seelische Wachstum ist eingeschränkt. Das eigene Denken wird absolut gesetzt und ist von nun an maßgeblich. Kein Dialog kann daran wirklich etwas ändern, wenn die Erfahrung höherer Zusammenhänge fehlt. Beide schätzen die Realität falsch ein und lassen andere unter dem Mangel an Einsichten leiden. Volle Entfaltung ist hier eben nicht möglich, die ja erst tiefere Erkenntnisse zulässt für Reifung und Wachstum. Dafür brauche ich die Transformation über die Emergenz. Ändern kann ich nur etwas, indem ich genau erkenne, was ist. Auch die Kraft für das Unveränderliche erhalte ich in erster Linie über die spirituelle Orientierung, die keine Dogmen kennt, aber dafür die unbegrenzte Weite der Vernunft erfahrbar macht gegen alle weltlichen Konditionierungen.  Wer diesen Raum der inneren Freiheit nicht erfährt, bleibt eben Heide und Fundamentalist. Beiden fehlt die Einsicht in das Wesen des Glaubens.

Ulrich Schabel: Die Vermessung des Glaubens. München 2010, 1. Auflage