Existenzchamäleon

Im Interview mit Lars Eidinger in Sternstunde Philosophie auf 3SAT mit dem Untertitel Das Leben als Kunstwerk sagt der Schauspieler mehr über das Leben als so mancher Therapeut oder Philosoph.

 

Wir erarbeiten uns eine Identität, die das ganze Leben tragen soll. Aber Menschen erleben Brüche durch Schädigungen, die zum Umdenken auffordern. Sich immer wieder neu zu erfinden und zu definieren ist Ausdruck gesunder Lebendigkeit, die dann durch Wandel eine neue Rolle ermöglicht, die aus den Belastungen herausführt. Von Schauspielern kann man diese Fähigkeit lernen. Wir kleben oft zu lange an falschen Entscheidungen, die alles blockieren und die anderen Möglichkeiten verstellen, die es fraglos immer noch gibt. Für die Veränderungen braucht der Mensch Energie und Zuversicht. Jeder Mensch hat eine Reihe von Möglichkeiten und wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine neue für ungeahnte Ziele, für die man sich öffnen sollte. Es ist der Weg, der Sinn macht und nicht immer das Ergebnis. In eine neue Rolle schlüpfen zu können ist Befreiung von Belastungen, die die  Potenzialentfaltung behindern. Ein Schauspieler kann sich ausprobieren und an die Grenzen gehen, um ein starkes Selbstgefühl zu entwickeln. Jedes Scheitern kann in einen Erfolg umgemünzt werden, wenn man bereit ist aufzustehen und die Dinge anzugehen, die erfolgversprechend sind. Im Grunde ist auch der Wandel Ausdruck von Gesundheit und nicht die Erstarrung und Festlegung auf eine Möglichkeit, eine Rolle, eine Identität. Es gibt hier mehr Angebote, als man sich vorstellen kann. Viele Menschen sind erst erfolgreich geworden durch ein Scheitern in einer Sache. Die Überzeugung wächst mit den Einsichten über sich selbst.

Kunstwerk als Lebendigkeit

Der flexible seelische Apparat bietet neuen Sinn an nicht in Form einer Künstlichkeit, sondern sich und sein Dasein als kleines Kunstwerk zu betrachten, auch wenn man kein Schauspieler ist. Sich neu zu positionieren wird öfter im Leben notwendig und trifft viele Menschen, die sich mit neuer Energie der Herausforderung stellen und noch einmal oder auch immer wieder etwas schöpferisch beginnen.  Es geht also nicht um ein Aufgeben, sondern um ein Modifizieren, indem man die Dinge anders bewertet und die Chance sieht, die sich nun anbietet und ergriffen werden will. Je früher man umdenkt, ums so weniger belastet die alte Rolle, in die man schon längst nicht mehr hineinpasst. Das Korsett war zu eng und nun tritt an diese Stelle eine Freiheit, die inspiriert und motiviert. In der Fähigkeit zum Wandel steckt viel Gesundheit, denn so manche Anpassung war ohnehin nicht akzeptabel. Identitäten sind nicht immer tragfähig. Wir müssen uns selbst gut kennen, um einen neuen Standpunkt zu finden, in dem wir uns dann wiederentdecken und alte Gewohnheiten durchbrechen. Jeder kann aus seinem Leben ein Kunstwerk machen, wenn er sich innerlich befreit von belastenden und einschränkenden Vorstellungen. Das Leben geht nicht einfach weiter, es kommt zu mehr Bewusstsein und damit zu neuer Kraft einer gesunden Selbstwerdung. Dieser Prozess ist nie abgeschlossen, ist eine Position auch der Kritik am Bestehenden, die ausdifferenziert werden muss.

Innovation gegen Anpassung

Aus einer alten Identität wird also eine neue und passendere, die weniger determiniert. Und hohe Intelligenz sieht auch immer den Mangel, das Defizit in so mancher Identität, die wir oft schon unbewusst verlassen haben, um zu neuen Ufern zu gelangen, die einem mehr entsprechen. Dies kann auch immer Hintergrund eines Scheiterns sein. Der Mensch hat sich hier selbst schon überholt und hängt nun in einer Rolle fest, mit der kein Glück mehr verbunden ist und keine Potenzialentfaltung möglich ist. Hier hilft nur noch das Umdenken und Erkennen, was wirklich zählt angesichts einer komplexen Welt, die viele Rückschritte macht und das als Fortschritt verkaufen will. Wer viel reflektiert, passt nicht so ohne weiteres ins Establishment. Er braucht den weiteren Horizont, um atmen zu können. Dieser Reflektionsdrang will ins Bewusstsein und will sich dann auch entsprechend mitteilen. In alten und engen Schuhen läuft es sich nicht gut. Wer eigentlich zu den Innovativen gehört, darf sich nicht an Verhältnisse anpassen, die er nicht gut heißt. Das volle Potenzial wartet schon auf die Entlassung in die gedankliche Freiheit. Wer nicht zu den Reproduktiven gehört, muss auf seine Gesundheit achten, die er nur in der Produktivität findet. Niemand will in einem Dampfdrucktopf verharren, in dem sich die Energien stauen, anstatt sie kreativ auszuleben. Ängstliches Anpassen an Missstände kann in die Krankheit führen. Die Fülle des Daseins besteht nicht nur in der Spiritualität, sondern auch in Bezug auf das sinnvolle Einsetzen seiner Kraft. Deshalb ist die Frage so wichtig,  zu welcher Seite man gehört. Sie ist lebenswichtig für das Seelenheil. Krankheit ist oft ein Zeichen der Fehleinschätzung. Die schillernden Facetten eines Daseins warten nur auf ihre Realisierung.

Selbsttherapie

Bei dem Begriff Selbsttherapie geht ein Aufschrei durch das Establishment und den Mainstream. Doch wer oft vor allem mentale Krankheiten als unheilbar deklariert, hat nicht recht.

 

Die Pathologisierungen nehmen zu, aber nicht die Heilungschancen im heutigen therapeutischen System. Wenn Ärzte und Therapeuten mentale Krankheiten nicht heilen können, liegt das nicht an der Art der Erkrankung, sondern an deren Inkompetenz. Dass man heute Psychotherapie studieren kann, ist kein Fortschritt, sondern ein weiterer Schritt der Anpassung ans System gegen Formen der Individualisierung und Personalisierung, die ein hohes Heilungspotenzial beinhalten. Das zeigt auch die viel beanspruchte Coacherszene. Was Schule und Universität nicht zu leisten in der Lage sind, müssen Mentaltrainer später ausgleichen, damit das Leben erfolgreich und sinnvoll wird. Ein nicht hinzunehmender Zustand. Aber es ist anstrengend, ein System zu ändern. Viel hilfreicher ist es, die Dinge in die eigene Hand zu nehmen und aktiv zu werden in Bezug auf die eigene, vor allem seelische Gesundheit. Das ist einfacher, als man denkt und wesentlich effektiver als zeit- und kostenaufwendige Therapien durch sogenannte Fachleute. Jeder ist in Bezug auf die eigene Erkrankung ein Spezialist. Kein Außenstehender kommt der eigenen Psyche so nah wie man sich selbst. Sich selbst zu erforschen und zu ergründen durch Bewusstseins- und Reflexionsarbeit bedarf einer gewissen Bildung, die aber heute fast jeder hat. Der wirklich mündige Bürger wird in Selbstverantwortung zum Fachmann und Fachfrau für sein Problem. Das ist eine hoffnungsvolle und optimistische Haltung gegenüber der Resignation einer vermeintlichen Unheilbarkeit.

Mit Papier und Stift zur Gesundheit

Viele mentalen Erkrankungen beruhen auf Verletzungen und Schädigungen durch andere auch durch unvollkommene und faschistoide Bürokratien. Die haben wir noch lange nicht gänzlich überwunden. Auch die Annahme, dass der Einzelne sich nur in sich selbst verstrickt, ist ein Vorurteil. Niemand kennt die Ursachen einer Erkrankung so gut wie der Betroffene selbst. Der benötigt nur Papier und einen Stift, um sich der Selbsttherapie zu widmen und den Dingen auf den Grund zu gehen, ohne dass ständig von außen korrigiert wird. Die Selbstkorrektur stellt sich bei einer gewissen Übung von selbst ein. Gedanken und Gefühle werden schriftlich thematisiert und werden so immer bewusster und klarer. Ein Versöhnungsprozess mit sich selbst stellt sich ein und der Mensch wird sich der Zusammenhänge immer bewusster. Es ist auch ratsam, diesen Schreibprozess mit anderen Gesundheitsmaßnahmen wie Ernährung, die die Darmgesundheit fördert (Darm und Gehirn korrelieren miteinander), und Bewegung zu kombinieren, damit auch der Körper gesundet. So kann sich der Mensch wieder ganz mit sich selbst befreunden und sein Problem in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Das Thema Selbsttherapie wurde gänzlich abgewürgt und stattdessen ist eine unüberschaubare Therapeutenszene entstanden, die aber nicht über die nötigen Fähigkeiten verfügt. Es gibt sicher überall Spitzenleute, die aber oft dann auch kostspielig sind. Das kann sich nicht jeder leisten. Aber das eigene Nachdenken für sich selbst einzusetzen kostet so gut wie nichts. Wer sich die Selbsttherapie nicht zutraut, der kann selbstverständlich noch einen Therapeuten hinzuziehen, aber die Hauptaufgabe muss er/sie selber leisten, denn auch die Korrekturen stellen sich von selbst ein und der Blick wird immer objektiver, je tiefer die Erkenntnisse sind. Dieses Mindcoaching ist ein Selbstprojekt.

Heilsame Selbstzuwendung

Wer mental erkrankt ist, der hat sich selbst aus dem Blick verloren, er ist zu sehr nach außen orientiert und findet nicht den Zugang zu sich selbst, wenn er sich nicht mit den eigenen Gedanken beschäftigt. Er sieht auf dem Papier die Fortschritte. Hier sollte er sich nicht zu sehr kontrollieren, sondern den Gedanken – auch den banalen- freien Lauf lassen. So gelingt ein Aufbauprozess gegen alle Degenerierungen, die sich einstellen, wenn das Bewusstsein nicht gefördert und genährt wird. Diese Form der Selbstzuwendung ist an sich schon heilsam auch durch Autosuggestion und affirmatives Denken, das sich zeigt, wenn man sich selber ernst nimmt und es wagt, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Die Angst vor einem zunehmenden Subjektivismus sind unbegründet. Der Schreibprozess an sich ist eine realitätsfördernde Maßnahme. Die eigenen Wahrheiten kommen an das Licht und das Selbstvertrauen steigert sich mit dem Training, die passende Worte zu finden. Wer das sagen kann, was er wirklich fühlt und was ihn aus der Bahn geworfen hat, versteht diesen Einfluss auf die Psyche und kann gegensteuern. Mit dem Bewusstsein entsteht ein neues Selbstvertrauen und inneres Wachstum. Man kann an das Positive im Leben anknüpfen und das in jedem Alter. Ich brauche dafür keinen anderen. Der Anschluss an das Ureigene kann so gefunden werden und die blinden Flecke werden auch durch Selbstarbeit beleuchtet sowie auch die Schattenseiten der eigenen Existenz. Es wächst auch das Bewusstsein für die eigenen Fähigkeiten, die dann zu einem erfolgreichen Leben führen, so dass über das entsprechende Handeln die Gesundheitsentwicklung in Gang gesetzt wird. Die dafür notwendige Energie liefert immer eine universelle Spiritualität. Und Erkenntnisse setzen ganz allgemein Energien frei. Das Innerste kann wieder heilen und der Mensch wird frei für seine Vorhaben, die sich wieder deutlicher und klarer zeigen. Auch die neuen neuronalen Verschaltungen lassen sich so beeinflussen für die Überwindung von Traumata. Das Thema Selbsttherapie ist ein Zukunftsprojekt, für das intensiver geworben werden müsste, denn es beinhaltet viel Potenzial auch für die Erweckung des eigenen Potenzials für den Lebenserfolg.  Und die Vorträge der Mentaltrainer sind zum Teil kostenlos im Internet aufrufbar.

Michael Mary, Henny Nordholt: Selbsterforschung, Mit sich selbst arbeiten.

Jay Earley: Meine innere Welt verstehen. Selbsttherapie mit Persönlichkeitsanteilen. München 2014

Jael Backe, Alexandra Reinwarth: Am Arzt vorbei geht auch ein Weg. Die Kraft der Selbstheilung. München 2018 1. Auflage

Bernd Krewer: Kulturelle Identität und menschliche Selbsterforschung. Die Rolle der Kultur in der positiven und reflexiven Realisierung des Menschseins. Saarbrücken 1992

Talane Miedaner: Coach Dich selbst, sonst coacht Dich keiner. München 2009