Orientierung

Es ist die Zeit der Reifung, die Anspruch und Wirklichkeit in Balance bringt, damit wir nicht den „Unendlichkeitsmaschinen“ ausgeliefert sind, wie Ariadne von Schirach unser Problem  in ihrem Buch die Psychotische Gesellschaft beschreibt.

Die Autorin zweifelt am Sinn der Spiritualität, die aber das verletzte, kranke und beschädigte Leben öffnet für neue Perspektiven und uns neues Denken ermöglicht. Spiritualität darf sicher nicht apolitisch und untätig werden, denn so ergreifen wir unser Leben nicht, werden nicht zu Gestaltern des eigenen  Daseins gegen eine zunehmende Ökonomisierung des Lebens, die die Angst vor dem Nichts schürt. Reife Spiritualität richtet sich gegen einen religiösen und fanatischen Fundamentalismus, der kaum gesprächsbereit nur abwehrt und abwertet. Unter einem spirituellen Vorzeichen wird die Selbstzuwendung gleichzeitig Weltzuwendung und kann die Chancen ergreifen, die dieses Dasein bereithält. „Auch der Fanatiker glaubt an Sachverhalte, die nicht unbedingt mit der Realität übereinstimmen müssen“. Die Beschränktheit liegt darin, dass alles, „was das eigene Weltbild stört, nicht nur nicht wahrgenommen wird, sondern grundsätzlich nicht sein darf“. Er vermag den Zweifel nicht zuzulassen, den die  vielfältigen Wahrnehmungen des eigenen und des allgemeinen Lebens mit sich bringt. Wenn Orientierung nur Beschränkung auf wenige Dogmen bedeutet, ist sie Ausdruck der Angst und nicht Befreiung zur Wahrheit und Wahrhaftigkeit, die aber immer den Diskurs  und nicht die Behauptung sucht, um sich auch wieder ändern zu können.

Spiritualitiät ist kein Eskapismus

Leider kann sich die Autorin von allgemeinen Vorurteilen gegenüber mentalen Erkrankungen nicht lösen und kommt hier auch nicht zu tieferen Einsichten. Aber sie macht auf eine Degenerierung der Gesellschaft durch Angst und Ohnmacht aufmerksam, die wir durch Bewusstsein, Denken und Liebe überwinden können. Vor allem aber können wir gestalten und den Dingen so einen Sinn geben, die sie von Natur aus nicht immer haben. Sie kritisiert die spirituelle Haltung als gefühlte Unbegrenztheit, wo doch das konkrete Setzen von Sachverhalten erst die Substanz vermittelt, die es braucht, um nicht zu verzweifeln. Dabei besteht die Gratwanderung darin, sich nicht zu determinieren, sondern die Offenheit durchzuhalten. Wir erleben durch negative Erfahrungen die Enge der Determination und geraten so in eine Bedrohungslage, der wir nur entkommen können, indem wir handeln und hoffen, die Zeit sinnvoll nutzen und uns nicht nur unterhalten lassen. Wer nicht eingreift in das Lebensgeschehen, der wird früher oder später manipuliert, findet nicht seinen eigenen Weg und leidet so am ungewissen Leben. Sicher, alles Spirituelle kann zur Flucht vor der Wirklichkeit werden und verliert so die Selbst- und Veränderungskompetenz. Aber als positives Grundgefühl ist sie ein Teil ganzheitlicher Gesundheit, die zum Einflussnehmen drängt, damit die Probleme nicht lähmen. Sie begnügt sich nicht mit dem gelassenen Abwarten auf bessere Zeiten, sondern schafft die Energie für sinnvolle Produktivität.  Letztlich vermag sie den Menschen zu verorten und damit zu verheimaten gegen eine unbehauste Ödnis, die die Seele zerfrisst und die Welt und das Dasein in ihr als feindlich erlebt. Die Rationalität des homo oeconomicus übersieht die Lebendigkeit alles Seins und verstellt das Nichtzuberechnende, denn diese Rationalität kennt das Glück des bewussten Seins nicht, das sich eben nicht einschränkten lassen will, sondern möglichst frei entscheidet auch für einen immateriellen Sinn. Wenn Spiritualität Ewigkeit thematisiert, dann nur im Sinne des unbegrenzten Setzens von Möglichkeiten und nicht im Sinne einer Verlorenheit, die Unendlichkeit ja auch sein kann.

Eine gesündere Gesellschaft beginnt beim Einzelnen

Eine ängstliche Gesellschaft ist unproduktiv und unkreativ. Angst absorbiert unendlich viel Energie und erschöpft sich in der Negativität. Deren Nähe zur Sinnlosigkeit kostet den Menschen alle Zuversicht, die nicht unkritisch alles gut findet, sondern sich als Motor und Antriebskraft versteht, die Probleme beherzt anzugehen, die sich dem guten Leben ständig entgegenstellen. Das Leid lässt sich nicht verhindern, aber es ist in einem andauernden Prozess auch immer wieder überwindbar.  Das bedarf der Denkleistung und weniger langwieriger Therapien. Sich der eigenen Wahrheit anzunähern ist die Befreiung von falschen Vorstellungen und Erwartungen, die nur zu Störungen führen und das eigene Leben und das der Anderen behindern. So können wir spirituelle Realisten sein, ohne dass es der Spiritualität schadet. Und wo die rationale Sprache nicht hinreicht, entwickeln wir eben ein Narrativ, das das Wahre umschreibt. Die eigene Wahrheit zu erfassen bedarf hoher Reflexionsvermögen. Nur wer sich selbst begreift, entwickelt ein objektives Urteilsvermögen. Diese Wahrheit ist aber nicht Begrenzung, sondern ein Wissen, das diese Determinierungen auch wieder aufheben kann. So bin ich nicht das Produkt meines Seins, sondern meines produktiven Denkens und fühle mich hier prinzipiell frei und damit angstlos. Die Bedrohungen einer ökonomisierten Gesellschaft, die nur den Wettbewerb kennt und alle Anpassungsleistungen daran, werden unwirksam, wenn ich mich als das verstehe, was durch Reflexion auf das rekurriert, was wirklich trägt. Und das ist  nicht das Geld, sondern ein Leben ohne Angst und Sinnverlust. Der Verlust des Urvertrauens darf nicht nur bedauert werden. Wir haben es in der Hand, ob uns Tag für Tag und Schritt für Schritt ein Gewahrwerden gelingt oder ob wir versinken. Man nehme sich die Zeit für die notwendigen Überlegungen und werde so immer ehrlicher und genauer, damit das Bewusstsein eine Chance erhält, das Leben zu ergreifen auch gegen eine Unterhaltungsindustrie, die genau das verhindert. Und alles Ergreifen ist immer auch eine Form von Politik, die die Gesellschaft verändern kann zu einem Besseren und Gesünderen hin. Orientierung ist also nicht primär das, was ist, sondern was ich tue, um es zu ändern.

Ariadne von Schirach: Die psychotische Gesellschaft. Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden. Stuttgart 2019

 

Die Bedeutung von Symptomen

Für eine Heilung ist es notwendig, die Krankheit zu verstehen und zu analysieren, was die Schulmedizin nicht unternimmt

Oft leidet ein Mensch unter seiner Symptomatik, ohne den symbolischen Gehalt zu deuten. Das hat Konsequenzen für eine Heilung. Symptome treten so lange immer wieder auf, bis sie gelöst sind. Bis dahin ist es oft ein weiter Weg. Besonders mentale Erkrankungen müssen verstanden und entschlüsselt werden. Einfach nur Symptome unterdrücken ist keine Gesundheit und erst recht keine Heilung. Für die muss sich der Mensch anstrengen, damit die Symptomatik überflüssig wird. Die Sprache der Symptome ist nicht einfach zu verstehen, aber die Bemühung, die Bedeutung zu erfassen, darf nicht nachlassen – egal wie lange man unter einer Erkrankung gelitten hat. Deren Symbolgehalt zeigt den Weg, Gedanken besser zu integrieren. Ich muss mir also die Symptome ganz genau anschauen, um sie zu lösen. Die Sprache der Symbole deutet auf die Schwäche hin, sich selber auch in schwierigen Zeiten durchzuhalten. Abspaltungen und Unterdrückung von Inhalten bahnen ihre Weg ins Bewusstsein und können so behandelt werden. Es darf nie bei reiner Symptomunterdrückung bleiben, denn sie teilen etwas Relevantes mit , was ganz ins Bewusstsein gelangen will und muss.

Nicht Regeln und Strukturen, sondern Denkarbeit befreit

Der seelische und geistige Apparat ist sehr komplex und bedarf genauen Hinsehens, damit sich keine Symptome die Bahn brechen, die aus der Gesundheit herausführen. Sicher, Heilung ist ein großes Wort, aber der Mensch hat das Vermögen, negative Erfahrungen zu kompensieren und sich so wieder in die eigene Mitte zu begeben, die mit Distanz zu sich selbst wieder möglich wird. Distanzierung vom Leiden und damit auch von den Symptomen fördert die innere Festigkeit und erhöht die seelische Spannkraft. Die Entschlüsselung von Symptomen kann jeder für sich leisten, ein anderer durchschaut die Dynamik nicht. Wer also sehr reflektiert lebt, hat auch die Chance, hinter den Schleier zu schauen, um zu wachsen und zu reifen. Man kann diese Prozesse aufschreiben oder jemandem mitteilen. Die Arbeit als solche muss der Betreffende selber leisten, keiner kann einem diese Mühe abnehmen. Sich selbst zu verstehen ist eine enorme Herausforderung an die Introspektion. Immer wenn sich eine fundamentale Erkenntnis ereignet, reagiert der Geist mit Glück, es ist also ein Belohnungssystem aktiv, das die notwendige Rückkopplung enthält. Wer also über sich selbst nachdenkt und erkennt, was wirklich trägt, der bewegt sich auf dem Pfad zur Gesundheit. Es geht also nicht nur um das Einhalten von Regeln wie beispielsweise die des heiligen Benedikt, sondern um ein Durchschauen des eigenen Seelenapparates und seinen vielfältigen Ausdrucksformen. Wer aus der Bahn geraten ist durch Krankheitssymptome, der tut gut daran, sich selbst zu erkennen und wahrzunehmen, ohne ständig im eigenen Saft zu schmoren. Das Nichtwahrhabenwollen ist der Verdrängungsprozess, der nicht in die Gesundheit führt, für die wir zwar eine klare Intuition haben, sie aber nur umsetzen können, wenn wir kreativ werden in Bezug auf Verstehensprozesse, die sehr weit reichen können.

Die Kraft der Deutungsprozesse

Wer an Reinkarnation glaubt, der findet oft eine Erklärung für das Unverständliche, das sich im Leben ereignet und manchmal ins Bewusstsein vordringt, um bearbeitet zu werden. Krankheitssymptome spiegeln dann durch Bilder diese andere Gegenwart, die sich aus einer Vergangenheit speist. Es kann sich hier aber nur um eine Bereicherung handeln, die bewusst gelebt und anerkannt werden will. Sie will keine Verwirrung stiften, sondern das jetzige Leben erhellen und erweitern. Im Buddhismus und Hinduismus gibt es die Wiedergeburt. Das ist auch der Grund, warum wir ein bewusstes und achtsames Leben führen müssen, damit sich nichts Negatives etabliert, weil wir so unvorbereitet sind. Was also als mentale Krankheit klassifiziert wird, mag seinen Grund in der überindividuellen Vergangenheit haben. Die will und muss bearbeitet werden, damit es nicht zu Dauerstörungen kommt.  Die Vergangenheit kann eine Quelle der Kraft werden, wenn sie richtig gedeutet wurde. Deutungsprozesse sind oft langwierig, aber sie befreien aus der Unerlöstheit. Letztlich führt diese Denkarbeit raus aus der Ohnmacht des Unabänderlichen. Der Sprachgebrauch von Psychiatrie und Psychologie ist oft kontraproduktiv, denn er vermittelt keine Kompetenz sich selbst gegenüber, die der Mensch aber erlangen muss, um die Produktion von Symptomen verstehen zu können. Und wer Menschen als Geister sieht, braucht sich nicht zu fürchten, sie haben einen Sinn und möchten einfach gehört und wohl auch gesehen werden. Integrieren wir sie also ins Bewusstsein und erlösen sie über die produktive Einbildungskraft. Das Bewusstsein weiß auch immer, was wo wie und wann zu einem Einbruch geführt hat. An diesen Punkt müssen wir verweilen und ihn genau ansehen, damit die Vergangenheit nicht immer wieder verletzt und verwirrt. Die Symbolsprache der Symptome liefert den Schlüssel für das eigene Leben. Es geht nicht darum, die Medizin zu bestätigen, sondern um den höchst individuellen Punkt der eigenen Geschichte und eventuell über das individuelle Dasein hinaus.