Nachdenken

Man hat den Eindruck, dass die Zeiten des kritischen Journalismus vorbei sind. Wenn sich Medien zum Sprachrohr für Lobbyisten und deren Propaganda machen, haben sie ihren Auftrag verfehlt. Es ist deshalb sinnvoller, kluge Bücher zu lesen als die Zeitung, die eben keine kritische Distanz mehr wahren kann, weil auch die Journalisten die Themen nicht mehr durchblicken. Das wird nach Bologna noch deutlicher werden. Die Universalisten sterben langsam aus und den Spezialisten fehlt der Blick für das Ganze und für Zusammenhänge, der eigentlich auch erst Sinn vermittelt.

Matthieu Ricard ist aus dem Berufsleben als wissenschaftlicher Spezialist ausgeschieden, weil es dieses menschliche Bedürfnis nach universellen Einsichten nicht mehr erfüllt. Horizontverengungen stellen einen vor die Sinnfrage. Oft hat man nur die Wahl zwischen Krankheit und Ausstieg (in ein Kloster). Das kritische Vermögen des Nachdenkens wird zunehmend unterbunden, indem man die Perspektiven einschränkt und die demokratische Dynamik aussetzt. Jede Demokratie ist dieser Gefahr ausgesetzt. Der Eindruck verhärtet sich, dass das Nachdenken eigentlich nicht mehr gewollt wird, sondern das Anpassen an das, was ist, ohne Chance, es ändern zu können. Normopathie ist eine Krankheit, die es nicht mehr wagt, kritische Fragen zu stellen, um vermeintliche Tatsachen eben als Ideologie zu entlarven. Die Alternativen werden nicht mehr angedacht, weshalb es auf vielen Gebieten zur Stagnation kommt – auch in der Forschung.

Würden Medien also wieder mehr hinterfragen, brächte dies eine Welle des Nachdenkens in Gang, von dem alle profitieren könnten. Wir müssen auf vielen Ebenen wieder zu humaneren Lösungen kommen. Hier hat es eindeutig Rückschritte gegeben, die einem aufgeklärten Zeitalter nicht würdig sind. Wir können und wollen nicht alle aussteigen, aber wir wollen auch keine mediale Demonstration der Macht. Ganz hellhörig sollten wir werden, wo Kritik abgewürgt wird. Hier ist meistens etwas nicht in Ordnung. Wir sind es uns schuldig, gute Lösungen für Probleme zu finden und das geht nur über den fairen und lebendigen Diskurs. Einschüchterungen jeder Art sind Züge einer totalitären Entgleisung und damit einer gesellschaftlichen Degeneration. Und: Eine ausgrenzende, verletzende und den Dialog aussetzende selbsternannte Elite ist keine Elite. Lassen wir uns also nicht von den falschen Leuten an der Nase herumführen.

Achtsamkeit

Bei allem, was wir tun oder nicht tun, müssen wir uns fragen, wie dies beim dem Anderen ankommt. Unterlassungen sind ebenso virulent wie schädigende Handlungen. Der Mensch muss sich orientieren in dieser Welt. Nur wer im Kloster lebt, kann das Schweigen vielleicht vorübergehend zur Tugend machen. Innerweltlich ist es eine Verweigerung der Kommunikation und damit eine Verletzung der Sprache. Wir haben zum Glück die Sprache, um uns zu verständigen und somit Orientierung zu geben. Das sind wir uns schuldig als Menschen – gerade auch dann, wenn man anderer Meinung ist. Die „Funkstille“ zwischen Menschen kann krank machen, was Tina Soliman in ihrem so genannten Buch dokumentiert hat. Jemanden wie Luft zu behandeln ist ein schwerer Affront, eine egozentrische Haltung, eine Aggression, die den anderen überhaupt nicht antizipiert. Es fehlt das Einfühlungsvermögen oder es ist eine sadistische Neigung, den Anderen gezielt zu verletzen.

Viele Probleme, Vorurteile und Missverständnisse lassen sich durch Kommunikation auflösen. Meistens erkennen wir dann auch, dass viele Polarisierungen nicht der Realität entsprechen. Ohne Kommunikation drängen wir andere in eine Antihaltung hinein, auch in eine Verzweiflung, weil Nähe so zu einer unüberbrückbaren Distanz wird, die Schmerzen verursacht und nicht angemessen ist. Sicher, wir können nicht mit jedem intensiv verbunden sein, aber wir sind in der einen oder anderen Art doch verbunden. Verletzungen können stärker binden als Sympathien. Solche verhängnisvollen „Beziehungen“ (Verstrickungen)  müssen aufgelöst werden. Soweit sollte jedermanns Intelligenz eigentlich reichen einzusehen, dass diese Notwendigkeit besteht. Narzissmus hindert Menschen daran, diesen Weg zu gehen. Die Einstellung, dass man es nicht nötig habe, ist natürlich nur arrogant (Arroganz ist übrigens nie attraktiv!).

Klug ist, was angemessen ist, und für die Einsicht in die Angemessenheit einer Haltung und Handlung sollten wir unser Herz befragen und nicht den Verstand, denn der rechtfertigt nur die eigenen Defizite und verabsolutiert die eigene Position. Vernünftig ist die Handlungsweise, die ein Problem lösen kann und es nicht künstlich verlängert, bis die so Geschädigten ihre anderen Möglichkeiten verlieren. Die meisten Menschen machen sich nicht klar, wie ideologisch und paradigmatisch beschränkt sie sind. Die Einnahme fremder Perspektiven ist ihnen unmöglich. Davon lebt aber unsere Kultur und die sollte man nicht unterschätzen in ihrer Gemeinschaft stiftenden Leistung. Wir arbeiten auch ständig an der Differenzierung der Sprache, um uns besser zu verstehen und dadurch das Miteinander erleichtern zu können. Dieser Prozess um diese Bemühungen darf nie aufhören, denn daran hängt die gesamte Zivilisation. Schweigen kann man dann, wenn alles geklärt und gesagt ist und man auch dem Anderen die Rede nicht verweigert hat. Nur so können wir mit der Vielfalt der Erscheinungen umgehen. Es lässt sich nicht alles auf eine Linie zwingen. Das wäre eine totalitäre Haltung, die in einer Demokratie nur verletzt und eine Form der strukturellen Gewalt bedeutet. Gewalt in welcher Form auch immer schädigt.

Es fehlt offenbar immer noch an Sensibilität für solche Abweichungen vom Konsens der  Akzeptanz der Pluralität, über die wir uns verständigen müssen. Nur wer die Grenzen der Legalität überschreitet, sollte auch sanktioniert werden. Moral ist immer sehr differenzierungsbedürftig und bedarf einer tiefen Betrachtung. Wer hier auf oberflächliche Konventionen zurückgreift, kann sehr  ungerecht werden und  das Problem verfehlen. Wir sollten uns der Bedeutung bewusst bleiben, dass wir immer zu wenig wissen und uns bemühen müssen, diesen Mangel zu beseitigen für mehr Humanität. Davon hängt das Gelingen des Lebens ab, ob wir uns in dieser Frage verständigen können, wie wir leben wollen. Wer hier an Fortschritt glaubt und vertraut, dessen Leben kann sich weiterentwickeln.  Menschen verletzen auch Menschen, weil sie den Fortschritt in den Erkenntnissen nicht wahrhaben wollen. Entwickeln wir also ein Bewusstsein dafür, dass es immer einen besseren Weg gibt als den der  Verletzung, als den der Verweigerung von Kommunikation.  Drängen wir also niemanden in die Ohnmacht, in die Verzweiflung, machen niemanden zum Opfer, sondern ebnen wir ihm einen Weg in eine bessere Zukunft. Das ist Achtung, die eben zur Achtsamkeit führt und das ist mehr als nur Respekt, den man sich verschaffen will, weil man sich für besser hält und eigentlich nur recht haben will in seinen oftmals völlig falschen Deutungen. Skepsis ist angesagt auch und vor allem sich selbst gegenüber. Wenn ich mich zur Offenheit durchringen kann gegen die Erstarrung, begreife ich den doch tiefen Konsens, der uns befreit und heilt. Hier zeigt sich, ob ich Menschenfreund bin oder Misanthrop, der überall das Schlechte wittert und unterstellt, dann auch  Repressionen für angebracht hält. Diese Haltung widerspricht der Buddhanatur und der Gottebenbildlichkeit des Menschen.

Mind-cure-Bewegung

William James thematisiert in Die Vielfalt religiöser Erfahrung die Möglichkeit einer Heilung durch spirituelle Erfahrungen und Verhaltensweisen. Diese Heilung ist meistens durch eine Befreiung von schwerwiegenden Problemen gekennzeichnet. Wer durch Verletzungen mit einer mentalen Krankheit belastet ist, kann über verschiedene Methoden der Selbsterkenntnis und der Einsicht in die Gewinnung spiritueller Energie zu Gesundheit und Glück kommen. Krankheiten – besonders mentale – determinieren sehr stark und mindern dadurch die seelische Energie, die aber für die Heilung gebraucht wird. „Das einzige, was sie (die religiöse Erfahrung) unzweideutig bezeugt, ist, dass wir die Vereinigung mit etwas, das größer ist als wir selbst, erfahren und in dieser Vereinigung unseren größten Frieden finden können (S.501).

Der Anschluss an die spirituelle Sphäre kann gelernt werden wie viele heilsame Einstellungen. Dafür muss ich wissen, wer ich bin und was ich leisten kann und was nicht. Ich muss das Fremde abschütteln, um zum Eigenen zu kommen und von dort aus das Leben wieder ganz und heil aufzubauen. Verletzer müssen erkannt und überwunden werden. Dagegen kann man sich immunisieren, so dass der innerste Raum wieder frei wird. Das Selbst muss hierfür nicht unbedingt überwunden oder gar aufgegeben werden, es reicht, dass ich es relativieren kann, um es dann aber zu festigen. Der Bau einer inneren unerschütterlichen Festung hilft, die Traumata zu erkennen und hinter sich zu lassen. Schädigende Fremdansichten werden so eliminiert und erneuert durch die Wahrheit des eigentlichen Selbsts, das zu sehen nur ganz wenigen möglich ist. Die meisten doch sehr profanen und oberflächlichen Menschen urteilen, ohne zu wissen und ohne zu verstehen. Dem sollte man sich nicht aussetzen.

Die spirituelle Sphäre ist die des Guten und Schönen. Ich orientiere mich also nicht länger an dem Negativen, das manche Menschen verbreiten, sondern an den positiven Möglichkeiten des Seins. Ich weigere mich, ein Teil misogyner und misanthropischer Weltanschauung zu werden, die eben keine Heilungsimpulse enthält, sondern richte mich nach den affirmativen Angeboten, die mich in meinem Sosein bestätigen und entlasten. Diese Botschaft kommt von einem höheren gütigen Wesen, dem ich mich anvertrauen kann gegen die Sabotage des allzu weltlichen Lebens. Finde Gott in Dir und Deine Widersacher bleiben vor der Tür.  Der Schlüssel ist die Liebe, von der diese Menschen nichts verstehen, weil ihnen die unmittelbare Nähe zu Gott fehlt. Diese Unverbundenheit ist der Grund ihrer Schädigungen. Wir können Sie nur zur wahren Umkehr einladen, ein Teil einer Gemeinschaft zu werden, in der man sich schätzt und sich auseinander setzt im verstehenden Dialog.

Zu einer Heilung gehört auch immer die Potenzialentfaltung, jede Art von Gewalt sich selbst gegenüber ist zu vermeiden. Für diese Entfaltung ist die Selbsterkenntnis unabdingbar.  Wer Individualisierung als Vereinzelung verteufelt, hat nicht begriffen, dass sich Gesellschaften nur entfalten und entwickeln, wenn sich der Einzelne weiterentwickelt. Und unser Gehirn will sich lebenslang entwickeln. Wo das nicht mehr möglich, grassieren Alzheimer und viele psychische Störungen. Und Bewusstseinsarbeit kann jeder für sich leisten, dafür braucht man keinen Therapeuten. Jeder ist der Spezialist seines eigenen Seins, das sich genuin sinnvoll integrieren will.

Mindethik

Es sollte tägliches Programm sein, sich zu fragen, ob man ein Leben führt, das so verträglich ist, dass man ein gutes Gewissen haben kann. Niemanden zu schädigen ist dabei oberstes Gebot. Darüber hinaus sollte auch die Natur bedacht werden und alles, was in ihr lebt. Wie verhalte ich mich dem gegenüber? Welche Rechte nehme ich mir heraus, wo blende ich konsequent die Folgen meines Handelns aus (indem ich beispielsweise die Umwelt schädige). Wo lebe ich in Unfrieden mit einem anderen Menschen? Das alles sind Belastungen, denen wir uns aussetzen, die viel Energie verbrauchen, aber keine zurückgeben. Solche Ausbeutungen kann sich auf Dauer keiner leisten.

Deshalb ist es wichtig, jeden Tag einen Einklang mit anderen und der Welt/Natur um uns herum herzustellen. Damit schaffen wir mehr Bewusstsein für die kosmischen Energien, die harmonisch auf uns einwirken, um uns das Leben zu erleichtern. Glück und Freiheit sind nicht einfach da, man muss sie sich erarbeiten. Wenn wir verletzt wurden oder selber verletzen, determiniert uns das sehr stark und wir blockieren so viel Energie, die aber für die Harmonisierung des Umfeldes und für die Heilung gebraucht wird. Durch tägliche Bewussstseinsarbeit, Meditation und Überwindung egoistischer Motive (Askese- auch wegen der Zunahme an seelischer Energie) gewinnen wir den Freiraum, der uns heilt und uns auch in Verbindung bringt mit den Kräften der Natur und mit Gott. Werden wir also achtsamer und bedenken, dass positive Emotionen in ein Flow führen, durch das wir kreativ und produktiv werden und uns so aus der Enge in die Weite arbeiten, in der uns alles in einem besonderen Glanz erscheint. Solche Erfahrungen sind spirituell und verändern unser Leben nachhaltig. Verzeihung und Versöhnung werden möglich gegen Verhärtung und Verzweiflung.

Wir leben nicht geist- und gehirngerecht. Der Geist und das Gehirn wollen sich lebenslang entwickeln. Dieses Potenzial darf nicht behindert werden, es entstehen sonst (mentale) Krankheiten. Potenzialentfaltung ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit, der wir uns bewusst werden müssen. Entwickeln wir unsere Fähigkeiten voll, bereichern wir dadurch die Gesellschaft. Das wusste schon Goethe im 18. Jahrhundert. Hoch Individualisierte helfen anderen bei deren Individualisierung, um das Zusammenleben komplexer und intensiver zu gestalten. Wer sein Potenzial entfaltet hat, wird kein Schädiger, er verhält sich rücksichtsvoll allen Ressourcen gegenüber, die sein Leben sichern und schützen. Nur der Nichtentfaltete, Ausgebeutete beutet dann eben auch andere und die Natur aus. Ein kranker virulenter Kreislauf.

Die Mindethik befasst sich mit den mentalen Bewusstseinsleistungen, die wir kultivieren müssen, um die Gesundheit zu erhalten und das Miteinander erträglicher zu gestalten. Sie hilft auch bei der Abrenzung von Unerträglichem, das wir nicht integrieren können oder wollen, weil es den eigenen Werten widerspricht. Hier hilft aber der Diskurs, der ja nicht immer in einem Konsens mündet, sondern eben auch zu einer Trennung führen kann. Überfordern wir uns also nicht. Den seligen Einheitsbrei gibt es nicht und manchmal hat man mit jemandem etwas zu bereinigen, zu lösen auch gerade im Hinblick auf den Glauben. Wahrer Glaube führt ja nicht in die Erhabenheit, sondern zu tiefer Demut bezüglich unseres Nichtwissens.

Wir haben mehr Einfluss auf unseren Organismus und auf mentale Leistungen, als uns bewusst ist. In der Yogalehre der Veden wird dieser Einfluss thematisiert. Wir sind die Gestalter unserer Verfassungen, wir können unsere Stimmungen beeinflussen und regulieren. Hier unterliegen wir keiner Determination. Wer die Einsicht in diese Freiheit gewonnen hat, der kann sich selbst heilen von den schlimmsten Verletzungen und Schädigungen. Er wird autonom und Herr über sich selbst. Das wird oft bestritten von materialen Reduktionisten. Wer aber den freien Willen bestreitet, der negiert den Menschen als Gottes Schöpfung. Wir können uns sogar gegen uns selbst entscheiden (ob das sinnvoll ist, ist eine andere Frage). Wenn wir frei werden wollen von negativen Erfahrungen, können wir Gott erkennen und uns dem Licht zuwenden, das aus der Verzweiflung herausführt. Nicht alles macht deswegen Sinn, aber wir können unseren Weg weitergehen.