Emotionsarbeit als Selbsttherapie

Die Heilungsliteratur legt viel Wert auf die Überwindung von negativen Emotionen. Maria Sanchez versucht in ihrem Buch Die revolutionäre Kraft des Fühlens zu erläutern, dass negative Emotionen erst einmal bewusst empfunden werden müssen, bevor man sie dann durch höhere Reflexion auflöst. Sie unterscheidet das ungeliebte Kind vom geliebten Kind, das anerkannt werden will, seine negativen Emotionen deswegen unterdrückt und verdrängt und so keinen Zugang mehr zu sich selbst hat, was dann zu Krankheiten und schweren Symptomen führen kann. Ihre These lautet, dass fast jede Erziehung verletzt und eine Macht-Ohnmachts-Dynamik verursacht, dem das Kind ausgeliefert ist. Um aber zu überleben in einem Überlebenskampf verzichtet es auf die Emotionen, die aus den Ohnmachtslagen herausführen könnten und so eine Selbstermächtigung möglich machen. Negative Emotionen sind also nicht nur schlecht, sie machen auf eine Mangelsituation aufmerksam. Hinter Depressionen können sich Angst, Wut, Trauer und Aggressionen verbergen, die man nicht gut finden soll, sondern die man sich ganz genau anschauen sollte. Ich bin mir einer Aggression  bewusst und gehe ihr auf den Grund, warum ich sie in einem bestimmten Zusammenhang empfinde.

Meistens gibt es eine Verbindung mit den Erfahrungen in der Kindheit, die wir uns nun trauen zu erinnern, ohne dass eine autoritäre Stimme dies verhindert. Maria Sanchez spricht von dem „Phänomen der Urwunde“ (26), die unsere Erfahrungen als Erwachsene beeinträchtigt. Sie hält es für möglich, dass jeder in einer Art „emotionaler Selbstbegleitung“(45)  diesen Verletzungen auf den Grund gehen kann und sogar sollte in einer Art Selbsttherapie. Hierin sieht sie eine Bereicherung unseres Daseins: “ Mit uns ist nichts verkehrt [negative Emotionen]. Worum es mir geht, ist, aufzuzeigen, dass das Leben so viel mehr für uns bereit hält als das, was wir innerhalb unseres psychologischen Überlebensprogramms erfahren können.“ (43) Ein Überlebensprogramm der Anpassung an das sozial Gewünschte beeinträchtigt meine Gesundheit, da es wichtige Anteile der Entwicklung unterminiert. Wohlgemerkt geht es ihr nicht um das  uneingeschränkte Ausleben von Emotionen, sondern um deren Hinweischarakter auf Unerträgliches, das eben mit negativen Emotionen verbunden ist. In der Bewusstwerdung finde ich eine Sprache und kann mich mitteilen – anders als in der kindlichen Ohnmacht. Schutzprogramme beinhalten ein Leben auf Sparflamme des nur nicht Aneckenwollens. Aber ein authentisches ‚Ich bin wütend über etwas‘ und ich will hier eine Änderung, ist schon ein erster Schritt zur Änderung und führt heraus aus der destruktiven Spirale der Verleugnung und apathischen Anpassung.

Die Wahrnehmung schwieriger Emotionen ist deshalb so wichtig, weil sie die Verwundung aufzeigen: „…was es braucht, ist ein Weg, der uns zeigt, wie wir zu unserer Verwundung zurückkehren können und uns gleichzeitig tief in uns geschützt fühlen“ (65). Positives Denken oder die bewusste Erzeugung positiver Gedanken kann nicht geschehen, ohne dass die negativen bewusst geworden sind. Und jeder Mensch hat hier eine unbeleuchtete Seite, die es gilt zu erhellen, um die innere Entfaltungskraft auszuloten. Oft sind es tiefe Würdeverletzungen der Macht-Ohnmachts-Dynamik, die furchtbar kränken und Krankheiten verursachen, wenn sie nicht bewusst gemacht wurden und damit auch gefühlt werden: „Durch das Nichtangenommen-Sein als die, die wir sind, wird uns nicht nur eine bestimmte Qualität von Liebe nicht zuteil, sondern wir geraten darüber hinaus wiederkehrend in eine Position der Machtlosigkeit“(177). Wahrer innerer Friede kommt nach ihrer Meinung nicht durch das Vergeben, das sie für gewaltvoll hält, sondern durch die Wiederinnerung an das innere Kind, dem man diese Gewalt nicht antun darf, weil „tiefste existenzielle Ängste“ (131) damit verbunden waren und nun durch andere Verletzer reaktiviert wurden. An diese Verletzungen muss der Erwachsene herankommen in seiner „Emotionsarbeit“ (145). So kann eine Angststörung verschwinden, wenn man seine Aggressionen erkennt und zulässt. Emotionales Reifen besteht also nicht darin, nur noch positive Gefühle zu erzeugen, sondern sie erst aufzulösen, wenn ich sie gefühlt habe, ohne mich ihnen  auszuliefern. Ich bleibe der Beobachter meiner Gefühle in einer Art dualen „Prozessbegleitung“ (182), die den Abstand zu sich selbst  impliziert bei emotionaler Präsenz.

Ich kann erst dann neue neuronale Verbindungen gegen traumatische Erlebnisse aktivieren, wenn ich die blockierenden durchschaut habe. So komme ich heraus aus der Ohnmacht des verletzten Kindes und kann emotional, geistig und mental reifen. Maria Sanchez weist auch auf die Möglichkeit hin, die Psychologie mit Spiritualität zu verbinden, die ja auch an der Auflösung von negativen Emotionen interessiert ist über ein universelles Bewusstsein, dass aber das individuelle erste einmal berücksichtigen muss. Ich kann kein virulentes Programm überschreiben, wenn ich nicht weiß, wie und unter welchen Bedingungen es wirksam ist. Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als Experte für mich selbst zu werden, um zu einem erfüllten und gesunden Dasein zu kommen.

Maria Sanchez: Die revolutionäre Kraft des Fühlens. 1. Auflage 2019

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