Es ist nicht Ausdruck einer großen geistigen Geste, wenn banale persönliche Abneigungen und Abweisungen zu einer Wertedebatte hochstilisiert werden. Der Verdacht erhärtet sich, dass man sich hinter einer vermeintlichen Moral versteckt und so einen Diskurs in Gang hält, der seltsam ins Leere läuft. Da hält jemand den Wert der Ehe hoch und daran fest, obwohl eine Ehe von den Betreffenden längst aufgekündigt wurde oft im gegenseitigen Einvernehmen. Der Wert der Ehe ist aber an eine Vereinbarung von zwei Menschen gekoppelt. Darüber hinaus hat sie keinen Wert an sich. Wer dies behauptet, möchte Menschen in die Knechtschaft zwingen, unerträgliche Verhältnisse auszuhalten, anstatt sie zu verändern. Dies unternimmt die katholische Kirche, indem sie die Wiederverheiratung von Geschiedenen verhindert und so eine Reihe von Tragödien verursacht.
Wir müssen anerkennen, dass sich zwei Menschen voneinander weg entwickeln können. Das hat intrinsische und extrinsische Gründe. Es sind nicht die Verlockungen am Rande, sondern die internen Zerwürfnisse, die zur Aufgabe einer Ehe zwingen. Mit Gewalt lässt sich kein Fremdwerden aufhalten. Und diese Fremdheit kann eintreten. Es sind die Bücher, die wir lesen, die Aufklärung und Perspektiven, die wir durchmachen und einnehmen, die uns verändern. Der Mensch ist einer lebenslangen Entwicklung unterworfen und bestenfalls finden sich zwei Menschen immer wieder neu. Aber für diesen Prozess bedarf es eben beider Verständnis und nicht eines äußeren Vertrages. Menschen wollen wahrhaftig leben, weil sie sonst krank werden, wir sind offenbar darauf angelegt, authentisch zu sein. Wer dies ignoriert, der geht ein hohes Risiko für sich ein.
Es ist weniger der Streit, der Menschen entzweit, es ist die fehlende Nähe, die zur Einsamkeit in der Ehe führen kann und so ein Leiden entsteht, das einen Krankheitsprozess initiiert. Den kann man nicht wollen. Die Zeiten sind vorbei, in denen wir bewusst zugrunde gehen. Der gesunde vitale Impuls wäre also die Aufgabe einer geistig unfruchtbaren Ehe, die jede Kreativität im Keim erstickt. Die Liebe war nicht stark genug, um die jeweilige Entwicklung des anderen zu befördern. Ehe ist nicht Unterwerfung oder Aufopferung, sondern sie ist ein Verband der gegenseitigen Förderung. Wer dem nicht zustimmt, der sollte lieber Single bleiben, denn alles andere führt zur Instrumentalisierung und behindert die individuelle Entfaltung, die die Genexpression braucht, um diese Energie nicht gegen sich selbst zu richten. Potenzialentfaltung ist auch hier eine Notwendigkeit und kein Luxus. Hier erfährt eine Gesellschaft auch eine sinnvolle Bereicherung, hat also darin auch einen volkswirtschaftlichen Nutzen. Der sollte aber nicht an erster Stelle stehen, denn wir arbeiten, um zu leben.
Eine Gesellschaft kann sich nur insoweit entwickeln, wie sich der einzelne Bürger entfaltet. Dieser Zusammenhang ist deutlich und kann nicht geleugnet werden. Werte verändern sich entsprechend dieser Dynamik und müssen ständig hinterfragt werden. Wer an etwas festhält, was vor über 2000 Jahren einen Sinn hatte, aber heute nur noch schadet, der muss sich als Feind der natürlichen geistigen Evolution beschimpfen lassen. Wir sind ihr nicht unterworfen, wir gestalten sie und das ist Ausdruck unserer Einsichten und unserer Freiheit, die wir zum Guten einsetzen müssen. Und hier bleibt es bei einem der höchsten Werte überhaupt, niemandem zu schaden, nicht zu verletzen und nach Wahrhaftigkeit in allen Lebenslagen zu streben. Nichtauthentische Institutionen haben keine Zukunft. In diesem Sinn kann man nur jedem Menschen eine gute und konfliktfreie Entwicklung bis ins hohe Alter wünschen gegen die Zunahme mentaler Krankheiten durch Prozesse der Entwicklungsbehinderung. Arbeiten wir uns also in die Freiheit und befreien wir uns gegenseitig zu einem höheren Miteinander. John Stuart Mill wusste um den hohen Wert der Freiheit (On liberty 1859) und freiheitlicher Entscheidungen. Ohne sie macht Demokratie keinen Sinn.
Gerald Hüther, Michael von Brück, Konstantin Wecker und viele andere haben das wichtige Thema Potenzialentfaltung aufgreifend eine hilfreiche Organisation gegründet, die eben Forschungsergebnisse umsetzt. Die Frage sei erlaubt, warum akademische Forschung so selten gesellschaftliche Umsetzung nach sich zieht.