Urteilsvermögen

Wir wissen nicht erst seit Daniel Kahnemann, dass gründliches Denken Zeit braucht gegen eine Schnelllebigkeit, die nicht tiefer blicken lässt. Leistung und Urteilsvermögen entwickeln sich nicht proportional, sondern das Innehalten, die Auszeit, der Ausstieg aus oft sinnlosem Leistungsdruck befördern das Denken. Viele Denker haben sich die Zeit genommen, um unser Leben zu durchdringen und bessere Lebensbedingungen zu schaffen. Da wurde nichts aus Anpassung und Erfüllung von Pflichten, die eben das Denken unterbinden. Inhalte werden bei einem unerbittlichen Leistungsdenken zurückgestellt. Man genügt eben der Form und kommt so schnell weiter auf der Karriereleiter. Und ist man erst einmal dort, wo man hinwollte, macht man es sich bequem und bewegt sich auf ausgetretenen Pfaden. Menschlich allzu menschlich?

Für die Menschheit ist das oft tragisch, denn so wird der quantitative Fortschritt präferiert gegenüber dem qualitativen, der in der Lage ist, die Dinge zu ändern und zu verbessern. Ihm liegt ein innerer Reifungsprozess zugrunde, der zu grundlegenderen Einsichten führt und die Fehler, die wir auch im Umgang miteinander machen, korrigieren kann. Fehlerkorrektur ist das Ergebnis intensiven Nachdenkens und nicht extensiven Handelns, das wir so oft loben und bewundern. Aber es ist nicht zielführend, dient mehr der eigenen Selbstdarstellung und der Positionierung, aber nicht dem Gemeinwohl.

Wahrer qualitativer Fortschritt wird nicht selten angegriffen, weil er Kritik am Bestehenden impliziert. Wer sich in seinen Paradigmen eingerichtet hat, will keinen Diskurs. Seine Lorbeeren hat er erworben über die Bestätigung des Mainstreams, er gehört dazu, und das ist ihm wichtiger als die Infragestellung von Konventionen, die Menschen ja auch schädigen können, wenn sie nicht der Wahrheit entsprechen. Wahrheit bedeutet, den Sachverhalten auf den Grund zu gehen. Dies ist natürlich möglich und der Anreiz jeder Forschung auch gerade im sogenannten postfaktischen Zeitalter, das einen bedenklichen Relativismus etabliert.  Wo offenkundige Mängel im Denken zum Schaden von Menschen auftreten, da muss dringend geforscht und nachgedacht werden. Hier kann man sich nicht auf dem oft fragwürdigen Stand der Dinge ausruhen.

Der Mensch neigt zum Dogmatismus, der das Urteilsvermögen einschränkt. Dieser Dogmatismus führt nicht selten in die Stagnation und zu autoritären und repressiven Tendenzen, kann sogar eine Demokratie aushebeln. Hier machen sich einige Wenige zu Repräsentanten der Macht, die anderen dann vorschreiben wollen, wie sie zu leben haben im Wahn eines Einheitsdrucks, der Pluralität und Individualität verteufelt. Es gilt also wachsam und offen zu bleiben für wohl begründete Argumente, um den qualitativen Fortschritt nicht zu behindern, der für viele lebensrettend sein kann. Das Urteilsvermögen ist keine Rechenleistung, sondern ein besonnenes Abwägen von Gründen zugunsten von Menschen, wodurch eine Gemeinschaft immer profitiert.  Elite ist nicht die Vertretung des Establishments, sondern die begründete und begründende Kritik an diesem. Nicht jede Modernisierung ist  gelungene  Innovation, denn Opfer darf sie nicht hervorbringen.

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