Die Thesen Meister Eckeharts scheinen veraltet, wenn man nicht hinreichend definiert, was er unter Aufgabe des eigenen Willens versteht.
Wir geraten in eine Widersprüchlichkeit, wenn wir den eigenen Willen Gottes Willen entgegensetzen. Gerade aber um die Aufhebung dieses Konflikts geht es Meister Eckehart. Das Leiden zu beenden über Erreichung einer inneren Freiheit ist seiner Meinung möglich, wenn der Mensch sich vom Vollkommenen transformieren lässt. Gott ist für ihn das Unaussprechliche, dem keine ontologische Qualität zukommt. Gott ist das Wissen und die Heilung von Leiden, die vor allem durch die Materialität unseres Lebens verursacht werden. Er unterscheidet deshalb den Willen der nicht erleuchteten Ichhaftigkeit vom Willen Gottes. Aber die erkennende Selbstfindung ist eigentlich immer schon eine spirituelle, die sich selbst transzendiert angesichts der Kultivierung der eigenen Fähigkeiten und Einsichten. Die Erreichung von Glückseligkeit ist befreit von allen Körperlichkeiten bzw. der Materialität. So schreibt er auch über die Krankheiten in seinen Predigten: „Das Licht findet man recht eigentlich in der Finsternis; somit, wenn man Leiden hat und Ungemach, dann ist uns das Licht am allernächsten“(S. 266). Ihm ging es um die Freiwerdung von eigenen Vorstellungen und Bildern für die Öffnung eines göttlichen Willens. Es geht also nicht um Selbstaufgabe, sondern um die Überwindung der ichhaften Vorstellungen, die nur das Eigene wollen und nicht das Vollkommene. Also werden Gutheit und Gerechtigkeit ignoriert zugunsten des Ichs, das sich durchsetzen will gegen höhere Erkenntnisse, die immer schon regulieren und damit transformieren.
Die höheren Synthesen machen selig
Die Einheit von menschlichem Willen und göttlichem Willen ist schon durch die Idee Gottes gegeben und löst den Konflikt auf. Konflikte verursachen Krankheiten und schwächen Seele und Geist. In der Energie des Einsseins mit der Idee der Vollkommenheit in Gott kommt der Mensch zu sich selbst und zur Einsicht in die Synthesen des Denkens im Sinne von Offenbarungen, die der Geist empfängt. Auf die Empfänglichkeit muss sich der Mensch vorbereiten, denn er hat sie nicht qua Schöpfung (Kreatur), sondern über die höheren Vermögen des Geistes, der sich so befreit aus den Zwängen des Alltagsverstandes und der auch in der Lage ist, Raum und Zeit zu überwinden für die seelische Erfahrung von Ewigkeit. Diese Ewigkeit macht glücklich, denn alles Vergängliche wird nebensächlich, ist das Ergebnis von Offenbarungslosigkeit. Das Leerwerden ist die Voraussetzung für die Fülle des Daseins in Gott. Dies geschieht vor allem über die Erkenntnis und die Einsicht in die Sphären des reinen Denkens, das von Fleisch und Blut befreit ist für die Erreichung der Synthese mit Gott und reinem Geist, der nur dort eingehen kann, wo er verstanden wurde als oberstes Prinzip unserer Seele, unseres Bewusstseins und des Geistes und vor allem der Vernunft, was wir unter dem Sammelbegriff Mind verstehen als Ausdruck von Idealität, die die Materialität bzw. Endlichkeit transzendiert.
Das göttliche Bewusstsein
Meister Eckehart geht es aber nicht nur um ein gefühlsmäßiges Erfahren der Fülle durch Spiritualität, sondern um ein Wissen, das in Bewegung ist wie alles Innerliche. Rituale sind für ihn Äußerlichkeiten, die nicht unbedingt zur Erfahrung eines göttlichen Willens führen. Wer ganz davon erfasst wird, ist im Reinen mit sich selbst und der Welt und erkennt den Fortschritt im Bewusstsein, das Ewigkeit will und sie in Gott erhält. Es gibt keinen Anfang und kein Ende, aber es gibt die Geburt des göttlichen Bewusstseins, das alles verändert und so transformiert, dass Ängste und Sorgen verschwinden im Vertrauen auf die Kraft und Energie durch die Einswerdung mit Gott. Der Glaube kann Berge versetzen und die Dinge zu einem Besseren wenden, weil es nicht nur das eigene Ich ist, das sich profiliert, sondern das göttliche Selbst, das eine beglückende Bewusstseinserweiterung bedeutet. Konflikte heben sich hier von selbst auf, es gibt immer eine Lösung. Selbst traumatische Erfahrungen finden hier eine Heilung, weil das Verstehen eine neue Qualität erhält. Der eigene Wille ist oft mit Widerständen konfrontiert, die dadurch zustande kommen, dass etwas nicht durchdacht wurde und auf seine Offenbarung wartet. Das Einzigartige kommt in die Verbindung mit dem universellen Geist und kann sich erst hier frei entfalten.
Der freie Wille ist nicht der gute Wille
Wir stehen heute vor der derselben Realität wie damals Meister Eckehart: Es gibt das Schlechte in der Welt, auch weil der Wille frei ist und sich am Schlechten orientieren kann, obwohl der Mensch das vollkommen Gute zu denken in der Lage ist. Für Meister Eckehart liegt der Grund im Körperlichen und Materiellem, die das Geistige, die Vernunft verdrängen. Aber der höchste Eigennutz ist die Seligkeit, die Freiheit vom Leiden, die sich ereignet, wenn der menschliche Wille eins wird mit Gottes Willen und so das Schlechte keine Chance mehr hat, sich durchzusetzen. Alles Körperliche ist auch immer das Archaische, das der Askese im Wege steht. Da sich der Mensch bezüglich der Suche nach Gott nach innen wenden muss bei einer Abkehr von allem Äußerem, ist der ideale Weg zu Gott das Kloster. Wenn er die totale Selbstaufgabe meinte, um zum leeren Gefäß für die Gotteserfahrung zu werden, bedenkt er nicht, dass Konflikte sich nicht lösen, indem man etwas vollkommen eliminiert, sondern es integriert in ein höheres Ganzes wie den menschlichen Geist oder die Seele, die Gott erfährt. Das eigene Leben muss erhalten bleiben, wenn wir nicht untergehen und nicht krank werden wollen, denn der Mensch will sich entfalten entsprechend seiner Fähigkeiten und Interessen und zum Wohle der Gemeinschaft. Meister Eckehart geht es darum, konkrete Vorstellungen aufzugeben, die nicht erfüllt werden können und so nur Leid verursachen. Sich hier wieder für neue Möglichkeiten öffnen zu können ist die Erfahrung Gottes als Bewusstseinserweiterung. Gedankliche Engführungen sind die Ursache für Unglück.
Meister Eckehart: Predigten und Traktate. Zürich 1979