Psychotherapie im 21. Jahrhundert

Immer mehr Menschen benötigen eine Psychotherapie, weil ihre Entwicklungsfähigkeit an ein Ende gekommen ist durch innere oder äußere negative Ereignisse. Über den Zugang zum Selbst müssen wir uns heute Gedanken machen

Es soll nicht verschwiegen werden, dass es ein schwieriges Thema ist, denn viele Modelle, Methoden und Metaphern sowie Konstrukte werden der menschlichen Komplexität nicht gerecht. Ein Dogma wollen wir aufbrechen und zwar jenes, das behauptet, für eine Therapie bedarf es unbedingt eines Therapeuten. Der Mensch ist zwar auf den Dialog angewiesen, weil er sich verständigen will, aber in Bezug auf die Veränderung, die Entwicklung des eigenen Selbsts braucht er vor allem Einsichten und Erkenntnisse, die er auch in der Selbsterforschung gewinnen kann. Freud hat noch behauptet, dass die Abwehrmechanismen den Zugang zum Selbst versperren und die nur durch einen erfahrenen Therapeuten beseitigt werden können. Aber durch die kontinuierliche und ernst genommene Bewusstseinsarbeit gibt das Unterbewusste nach und nach seine Motivationen frei, so dass sie bearbeitet werden können. Sicher freuen wir uns über gelungene Diskurse und Dialoge, aber sie sind eher eine Folge der Selbstarbeit und der Selbstherapie, die der eigenen Wahrheit und Komplexität am nächsten kommt.  Wir können ein Leben lang zum Therapeuten rennen und doch keinen Schritt weiterkommen, weil Therapeuten nur bestätigen und spiegeln, aber den Bewusstseinsprozess nicht wirklich in Gang setzen, dass ich mich um mich selbst kümmern muss, wenn ich Fortschritte machen will.

Bewusstseinsarbeit ist der Dialog mit sich selbst für eine bessere Verständigung mit anderen

Lawrence LeShan meint in seinem Buch Beyond technique, dass ein Therapeut seinen Patienten lieben müsse, um ihm wirklich helfen zu können. Nun ist das faktisch schlichtweg selten machbar. Der Patient wäre von diesem Vermögen abhängig. Gerade das sollte man aber vermeiden. Der Patient reift nicht durch die Liebe, sondern durch Erkenntnisse und Bewusstsein. Liebe bestätigt nur das Vorhandene, das aber gerade pathologisch sein kann bzw. ein Unbehagen verursacht. Die Frage ist, ob Einsichten durch Dialoge eher eintreten als durch die Bewusstseinsarbeit? Die Frage muss man mit einem Nein beantworten. Da die Selbsttherapie eher eine schriftliche ist in Kombination mit Kontemplation, wird der Gegenstand ihrer Untersuchung konkreter und offensichtlicher und kommt in einem Gespräch vielleicht auch nie zur Sprache, da wir hier auch immer mit Selbstdarstellung befasst sind. Aber um die geht es nicht bei der Selbsttherapie. Hier wollen wir erfahren, was mich als menschliches Wesen ausmacht, wo meine Stärken und meine Schwächen liegen und wo ich Entwicklungsbedarf habe. Dafür muss ich oft tief liegende Zusammenhänge erkennen. Nur das Resultat kann ich dann mitteilen, vorher bleiben sie unbewusst und können nicht geäußert werden. Eigentlich kennt der Mensch sich sehr gut, er hat nur verlernt, genau hinzusehen und Worte zu finden für sein Elend. Will er nur bedingungslos geliebt werden wie ein Kind, wird er nicht wirklich reifen und einen Gewinn aus seinem Reifungsprozess ziehen, immer mehr Dinge zu durchschauen. Es bedarf dafür eines Dialogs primär  mit sich selbst für eine bessere Verständigung.

Intensive Bewusstseinsarbeit ermöglicht Emergenz

Wir wenden uns also phänomenologisch den Problemen an sich zu und lassen alle äußeren Herangehensweisen außer Acht, denn die verzerren oft nur die Lage. Kategorien aller Art werden wirkungslos, wir nähern uns dem Selbst ohne Voreingenommenheiten und Denkkonstrukte. Wenn es wieder erblühen soll, muss es ganz bei sich selbst sein dürfen und so die Fähigkeit erhalten, sich zu korrigieren und auch kritisch zu betrachten, was ein Kind ja nun eben gerade nicht kann. Wir als erwachsene und denkende Menschen haben dieses Vermögen und können davon auch nur profitieren. Vieles ist schmerzhaft, aber dagegen mobilisieren wir die Belohnungsmöglichkeiten. Wir tun dann das, was uns Freude macht, nachdem wir uns und auch andere durchschaut haben. Nur hier kann sich Wachstum ereignen und nicht im Spiegel des Narzissmus, der ja Ausdruck einer Unreife ist und sich nicht auseinandersetzen will. Andere Meinungen werden unsachlich sofort abgetan. Alles drängt hier auf Homogenisierung, was nicht der Realität entspricht, denn die ist kontrovers und heterogen. Wer steckengeblieben ist, schafft den Diskurs nicht und entwickelt lauter Abwehrstrategien dagegen und lässt sich von allerlei Emotionen beuteln. Bin ich aber in der Lage, mich selbst klarer zu sehen, ist auch eine neue Sachlichkeit möglich und viele Unstimmigkeiten erübrigen sich. Letztlich wollen wir einen klaren und aufgeklärten Geist besitzen, der Problemlagen rechtzeitig erkennt und darauf reagieren kann. LeShan macht auch auf den Unterschied zwischen Symptome kurieren und heilen aufmerksam. Heil werden wir über das ganze Bewusstsein, woran wir täglich und ein Leben lang arbeiten müssen, um in einen Zustand des Glücks zu geraten, durch das wir uns dann verständigen können, um uns zu bestärken. Volles Bewusstsein schafft Klarheit, die eben auch beglückt, auch wenn die Komponenten alles andere als glücksbringend sind. Emergente Strukturen werden hier wirksam, die von den Fesseln des Unterbewusstseins befreien. Möglicherweise ist unser Gehirn und unser Geist so konzipiert.

Lawrence LeShan: Beyond Technique. Psychotherapy for the 21st Century. New Jersey 1995

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