Endlichkeit versus Unendlichkeit

In der Natur ist alles endlich und determiniert durch Raum und Zeit und Kausalketten. Aber der Mensch kann die Unendlichkeit denken und findet sie im Kosmos bestätigt

Ludwig Wittgenstein meinte, dass die Lösung des Rätsels des Lebens in Raum und Zeit außerhalb von Raum und Zeit liegen müsse. Angesichts der Klimakrise, des Artensterbens sowie der Ausbeutung und Vermüllung des Planeten müssen wir einerseits die Endlichkeit der Natur begreifen und danach handeln. Andererseits brauchen wir den Begriff der Unendlichkeit für unsere Gesundheit und unser geistiges und spirituelles Wachstum. Damit wären viele Heilungen auch nur möglich, wenn wir die kausalen Zusammenhänge auch wieder überwinden. Kausale Zusammenhänge müssen zwar erkannt werden, aber man darf hier nicht stehen bleiben, sondern muss diese Zusammenhänge überschreiten durch eine Vorstellung des Unendlichen in Gott und Kosmos. Ohne diese Überwindung alles Kausalen bleibt alles determiniert und damit oft auch unlösbar. Alles Raumzeitliche muss also geöffnet werden durch ein Denken des Unendlichen als notwendigen Begriff für unser Seelenheil. Diese Dimension lässt sich nicht auf die Natur übertragen und man muss hier auch deutlich differenzieren, denn in Bezug auf die Natur sind wir zum schützenden Handeln aufgerufen. Verantwortung kann auch  nur dort stattfinden, wo etwas unter unseren Schutz fällt als denkende Menschen in einem Darüberhinaus des Betrachtens.

Ich darf hoffen angesichts einer prinzipiellen Offenheit

Der Mensch ist teilweise ein Naturwesen, aber eben auch ein Geistwesen, das sich mit der Unendlichkeit des Kosmos verbinden kann. Hier liegt auch der Grund für unsere Freiheit, die sich nicht eingrenzen lässt. Diese Teilhabe am Unendlichen macht uns zu einer Entität, die sich nicht im Funktionalen erschöpft. Schon Aristoteles (meines Erachtens auch schon bei den Vorsokratikern wie Anaximander) entwickelte zwei Unendlichkeitsbegriffe: das aktual und das potential Unendliche, das unseren Geist ausmacht, der sich eben nicht auf das Gehirn reduzieren lässt. Wir wissen wenig über unsere mentalen Kräfte, die aus sich heraus wirksam werden können und alle Determinierungen übersteigen. Damit ist alles Gewordene nicht etwas Endgültiges und Unerschütterliches. Wir müssen uns damit nicht identifizieren. aber wir dürfen auch die Verantwortung gegenüber der Natur nicht aufgeben. Die Unfassbarkeit des Universums darf uns nicht davon abhalten,  verantwortungsvoll zu handeln und möglichst so zu leben, dass wenig Schaden verursacht wird. Der Punkt der Irreversibilität bezieht sich nur auf die Natur, nicht aber prinzipiell auf den Menschen. Hier gibt es vieles. was uns geschadet hat, aber unser unendlicher Geist vermag uns daraus zu befreien für ein sinnerfülltes und prinzipiell offenes Leben. Wo etwas sinnentleert erscheint, hat der Geist sein unendliches Potential verloren und bewegt sich nur noch in Zwängen und Kausalitäten. So ist es ratsam, sich immer wieder mit der Idee des kosmischen Unendlichen zu verbinden, um unser Dasein zu erweitern durch neue Perspektiven. Die Unendlichkeit des Geistes liegt auch nicht außerhalb unserer Erkenntnis, denn die Wissenschaft der Mathematik operiert mit ihr.

Es geht um ein Anfangen

Wir müssen also deutlich unterscheiden, ob es um die Natur geht oder um unseren Geist, um alles Immaterielle. Die Quantenphysik kann hier eine Brücke schlagen und die Entitäten miteinander versöhnen. Harald Welzer schreibt in seinem Buch Nachruf auf mich selbst, dass wir aufgrund der Endlichkeit der Natur das Aufhören lernen müssen. Meines Erachtens geht es vielmehr um ein neues Anfangen unter veränderten Randbedingungen einer zunehmenden Verantwortung, die aber ohne Hoffnung, die sich aus dem Unendlichen speist, nicht zu haben ist. Auch das Sterben fällt leichter, wenn wir begreifen, dass alles Geistige nicht sterben kann und es deswegen auch ratsam ist, sich mit dem unendlichen Kosmos bewusstseinsmäßig zu verbinden, auch um aufgetretene Probleme so zu lösen, so dass ein Neuanfang immer möglich wird und wir uns so besser verständigen können. Ein Teil von uns muss sterben, ein anderer existiert weiter. Diese Ressource verringert die Wirkkraft negativer Ereignisse, die unser Leben so schwierig machen. Von der Idee des Unendlichen aus kann ich verzeihen – mir selbst und anderen. Bleibt alles kausal determiniert, verfalle ich dem Fatalismus und kann das Leben nicht in seiner vollen Präsenz ergreifen. Die vielen kleinen Tode, die wir durchlitten haben, führen in ein neues Leben von erwachten und voll entwickelten Menschen, die die Welt und die Natur erhalten wollen gegen den Sog der Destruktivität. Dafür bedarf es eines unendlichen Geistes, der in einer endlichen Hülle steckt, die aber nicht determiniert, wenn ich sie durchschaue. Die kann er verlassen, wenn er das dann üben möchte in Meditation und Kontemplation sowie durch die Erlangung einer Gestaltungsmacht.

Reine Analyse hat eine kafkaeske Note

Wir sehen, dass wir über die reine Analyse keine Heilung finden. Zwar verstehen wir die Zusammenhänge, aber wir kommen nicht über sie hinaus. Gerade aber die Überschreitung der kausalen Raumzeit öffnet den Raum für die neue Perspektive und für das Setzen einer neuen und heilsamen Ursache aus Freiheit, wie dies schon Immanuel Kant anmerkte gegen ein Totlaufen der Ursache-Wirkungsgesetze, die immer nur naturhaften Charakter haben. Wir bewegen uns  so in die Sackgasse und finden keinen Ausweg. Dieser Ausweg aber zeigt sich im Spiegel des Geistes mit der kosmischen Unendlichkeit, die Freiheit möglich macht und somit alle Kausalzusammenhänge auch wieder auflösen kann. Wenn etwas ganz und gar schief gelaufen ist im Leben, sind eben Fehler und Irrtümer unterlaufen, die wir durch reine Analyse nur zementieren und so die Selbstheilungskräfte aussetzen. Die Wiedergeburt, die Walter Schweidler in seinem gleichnamigen Buch für möglich hält durch Kunst im umfassenden Sinn des Lebens als Kunstwerk, kann nur im Heraustreten aus den gewordenen Zusammenhängen möglich werden. Ihr Verstehen wird dann zur Retraumatisierung, wenn ich nicht schon eine erweiterte Perspektive erarbeitet habe, die mir erlaubt, mich zu distanzieren und mich als freien Menschen zu begreifen, der nicht mit Kausalereignissen identisch ist. Ich bin weit mehr als das und habe dadurch auch die Energie, in die Potentialität zu driften, die alles Geschehene relativiert und neutralisiert – nicht unbedingt durch einen Lernprozess, aber doch in der Einsicht, dass mein Geist meine Persönlichkeit definiert und keine naturhaften Kausalvorgänge. Hier liegt die Lösung für ein Fehlverstehen der Relevanz von kausalen Erkenntnissen. Es ist nicht die Kausalität, die mich zum Menschen macht, sondern die Freiheit zum Neubeginn. Unser Gehirn ist darauf angelegt und wartet nur auf den Impuls für die Transformation der Heilung.

Walter Schweidler: Wiedergeburt. Freiburg/München 2020

Harald Welzer: Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens. Frankfurt am Main 2021

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