Wir wurden in Europa enormen Einschränkungen im Denken unterworfen. So wichtig der europäische Gedanke sein mag, so klarer zeigt sich, dass wir die freien amerikanisch- anthropologischen Forschungen dringend einbeziehen müssen, um einer erschreckenden Eindimensionalität zu entkommen
Die Politik wird nicht müde zu erklären, wer was für die europäische Union getan hat. Aber wer ein wenig tiefer denkt, der bemerkt, dass damit nicht nur Vorteile verbunden waren, sondern eben eine Reihe von Simplifizierungen für einen gemeinsamen Nenner. Intellektuelle haben damals noch gewarnt, was die Bildungsreform Bologna nach sich ziehen könnte. Es kam letztlich aber noch viel schlimmer. Und das war die Zeit der Lobbyisten, die hier ihre Vormachtstellung sicherten unter dem Schutz von Regierungen, die die Komplexität unserer Erkenntnisse vor allem bezüglich des Menschen nicht mehr gerecht werden wollten, denn hinter all den Reformen steckte ein dümmlicher reduktionistischer Materialismus, der letztlich Geist abschaffte und ihn als Produkt eines indifferenten Gehirns machte. Hätten die Amerikaner nicht unbeirrt weiter geforscht, säßen wir nun ganz und gar im Dunkeln. Viele akademische „Oberlehrer“ haben diesen Prozess der Entkomplexisierung unterstützt und befürwortet und in Kauf genommen, dass Menschen dadurch auch geschädigt wurden, weil sie in das primitivierende Konzept nicht passten. Man hätte Widerstand leisten können als Professor, aber man hat sich lieber angepasst und damit gezeigt, dass man doch kein Menschenfreund ist und repressive Maßnahmen daher für notwendig hält. Wir werden diesen autoritären Menschenschlag auch nicht los, wenn wir den Hintergrund nicht näher beleuchten.
Everyobody wants to rule the world
Wahrer Fortschritt ereignete sich schlichtweg anderswo, aber nicht hier in Deutschland. Es hätte letztlich auch ein Bildungsprozess sein können, der in der Lage ist, von unterschiedlichen Denkansätzen, Kulturen und Erkenntnissen zu profitieren. Sicher, manch einer ist zurückgeblieben, aber eine Orientierung an den erfolgreichsten Strategien im Sinne des Nutzens für den Menschen hätte diese Defizite beheben können. Jede wissenschaftliche Erkenntnis in Bezug auf den Menschen unterliegt der Frage nach ihrem Nutzen, also tut sie etwas für den Menschen und für sein Potential oder unterwirft sie und verursacht Schaden, hilft dem Menschen also nicht weiter. Gerade was den Menschen betrifft und eine damit verbundene Anthropologie sind wir erheblichen Rückschritten unterworfen worden aus billigen ökonomischen Interessen heraus und einem Vereinheitlichungsbestreben, das irgendwie unfähig macht. Wirtschaft ist auch nur ein Mittel zum Zweck und darf sich nicht über die Interessen von Menschen erheben. Der Mensch ist der Mittelpunkt und sein Wohlergehen ist der Maßstab. Aber er ist vieldimensional, sehr komplex und hat sein geistiges und positives Potential noch lange nicht realisiert. Das brauchen wir aber, um den wachsenden Problemen begegnen zu können. Die Eindimensionalität in der Bildung bei Ausgrenzung wesentlicher Dimensionen in unserem Dasein kann das nicht leisten. Der Zwang zur Norm wurde größer, auch wenn man die Toleranz der Vielfalt beschwört. Wenn Konsens sich auf eine gewisse Verdummung bezieht, dann wird es höchste Zeit, daran zu erinnern, was wir verloren haben, aber dringend für die Problemlösung brauchen. Hier in Deutschland wagten es nur wenige Wissenschaftler, einen integralen und interdisziplinären bzw. erweiterten Ansatz zunehmender Komplexität zu thematisieren. Das überfordert viele, ist aber die Lösung. Mit einfachen Rezepten kommen wir nicht weiter. Und viele haben es sich einfach gemacht und schieben eine ruhige Kugel, von der sie auch unsäglich profitieren und die nichts hinterfragt, Kritik abwehrt oder sogar pathologisiert. Gegen diesen Virus sind nur wenige immun.
Das Versagen der Denker vor dem Staat
Eine reduzierte Anthropologie ist die eigentliche Beraubung im 21. Jahrhundert. Anstatt offen zu bleiben für die vielfältigen Erfahrungen wird repressiv und auch gewalttätig ein Paradigma vertreten, das letztlich verdummt und Menschen abstumpfen lässt. Sie können sich auch nicht mehr verständigen, weil ihnen die Offenheit fehlt für die Belange eines Erkenntniswachstums, von dem wir alle profitieren könnten. Und es sind auch immer Wachstumsschmerzen, denn so mancher allgemeine und besondere Irrtum tut eben weh. Wer der Wahrheit zugetan ist, der öffnet sich auch den Enwicklungen. Wer nur seine eigenen Dogmen vertreten will, der fällt aus der Schwingung der ewigen Bewegung heraus und erstarrt. Verständigung ist das erste und nicht eine döselige Gefühlsforderung, die letztlich eine Kapitulation ist vor dem Denken. Evolution ist so nicht zu haben, denn dafür brauchen wir schlichtweg Argumente. Und ich will auch nicht verbunden sein mit Leuten, die andere schädigen oder deswegen nicht verstehen wollen, weil sie ihre falschen Glaubenssätze aufgeben müssten. Überall geht es bei mangelnder Verständigung um Macht. Eyerybody wants to rule the world singen Tears for Fears. Solange hier keine Einsicht geschieht, werden die Verhältnisse auch nicht besser. Kein Interesse an Klarheit und Wahrheit zu haben diskreditiert immer die eigene Person. Man stellt sich so selbst ins Abseits (und beschuldigt dann lieber andere). Die erweiterte Anthropoligie darf sich auch nicht auf Märchen (Flucht aus der Realität) beziehen, sondern auf objektivierbare Erfahrungen, die wir nur gewinnen können, wenn wir darüber sprechen und uns nicht einschüchtern lassen von engstirnigen Pathologisierern, die letztlich nur Besitzstandswahrung betreiben oft gegen Menschen. Dieses Klientel muss entlarvt werden und investigative Forschungen sind erforderlicher denn je. Wir sind blind geworden für das Unvermögen, das sich durchgesetzt hat gegen die Vernunft. Und die selbsternannten Vertreter der Vernunft haben kläglich versagt und wurden nun so stark marginalisiert, dass sie keiner mehr ernst nimmt. Also bezieht man sich weiter auf die massenhaften Denkfehler, denn die sind lukrativ für die Nutznießer, die Folgen für andere Menschen sind offenbar egal. Die Warnung von Herbert Marcuse in seinem Buch Der eindimensionale Mensch sollten wir bedenken. Konsens ist eine Frage der Überzeugung und nicht der Gewalt. Und für gute Argumente brauchen wir eine Bildung, die individuelle Potentiale erweckt und nicht einschränkt. Wir sind trotz eines gewissen Wohlstands nicht in der Lage, die Humboldtsche Idee zu verwirklichen für ein besseres Menschsein und gegen die Dummheit, die sich immer dann gewalttätig durchsetzt, wenn es an guten Argumenten mangelt.
Genialität entwickelt sich durch die skeptischen Schwebe
Abschließend möchte ich noch anmerken, dass es eine Tendenz gibt, Wahrheiten umzudeuten, wenn sie dem System widersprechen, was man auch aus totalitären Staaten kennt. Einstein war kein guter Schüler und auch kein besonders guter Student. Das verträgt sich nicht mit seinen Leistungen, die nichts mit dem Ausbildungssystem zu tun haben. Die skeptische Schwebe, die einen weitgehenden Autodidakten ausmacht, verbietet die Haltung des passiven Rezipienten. Man braucht die Fähigkeit, sich über das begrenzte Wissen hinwegzusetzen, um Neues zu schaffen. Bildungskritiker sollen argumentativ ausgehebelt werden, indem man nun behauptet, Einstein hätte überall ausgezeichnete Leistungen in seiner Ausbildung erbracht. Das ist falsch, denn ihn zeichnet die Selbstständigkeit im Denken aus und wenn die sehr ausgeprägt ist, lässt man sich nicht einfach etwas vorsetzen, man ist hier auch eher gelangweilt. Es zeichnet ihn aus, dass er sich über ein Wissen hinweggesetzt hat und das wohl schon sehr früh. Genialität passt nicht in dieses Bildungssystem und bringt sie auch nicht hervor. Warum halten wir also fest an einem System, das weder unserem Geist noch unseren Möglichkeiten und Potentialen entspricht? Im HIntergrund ist es die Wirtschaft und ein Staat, der die Anarchie befürchtet, weil er dem Menschen so wenig zutraut. Wir hätten längst bessere Formen des Daseins entwickeln könnnen, die nicht so ungeheure Schäden verursachen.
Herbert Marcue: Der eindimensionale Mensch. Neuwied 1967