Bei längerem Nachdenken offenbart sich ein Zusammenhang, der vordergründig als paradox erscheint: Heidentum, also irrationaler Atheismus, hat viel gemeinsam mit religiösem Fundamentalismus, denn beide Ansichten weisen auf einen beschränkten und hoch determinierten Verstand hin. Ulrich Schnabel äußert das Problem in Bezug auf den religiösen Fundamentalismus, der die Bibel wortwörtlich nimmt, wie folgt: “ Doch wer solche Erzählungen wortwörtlich nimmt und sie nicht als metaphorische Berichte von schwer fassbaren Erscheinungen versteht, begeht denselben Fehler wie viele Fundamentalisten. Beide reduzieren Religion auf ein System von dogmatischen Lehrsätzen, an die man strikt zu glauben hat. Sie verkennen jedoch das eigentliche Wesen der Religion als einer Kraft, die den Menschen gerade über diesen Horizont der eigenen, beschränkten Erkenntnisfähigkeit hinauszuführen versucht“ (S. 23). Das ist eine elementare Erkenntnis bezüglich des Sinns von Religion als einer Möglichkeit, Differenzen zu erkennen, sie aber nicht dafür zu nutzen, Menschen zu verdammen oder auszugrenzen, sondern die Hoffnung auf Wandel und Veränderung wach zu halten. Nächstenliebe beispielsweise ist der Dialog, auch andere an eigenen Einsichten teilnehmen zu lassen. Dies gilt besonders für tiefe religiöse Erkenntnisse, die wir als Erleuchtung bezeichnen.
Das Unterscheidende zwischen Heidentum und Religion liegt darin, dass der Eine sich selbst verherrlicht und der Andere sich aus Ichschwäche vor „idealisierten Autoritäten der Eigengruppe“ (S. 138f) unterwirft. Die Gemeinsamkeit wiederum liegt im Misstrauen und in der Feindseligkeit gegenüber Andersdenkenden. Strenge Vertretung eines Glaubenssystems und dessen Ahndung bei Übertretung ist zutiefst unchristlich und trägt damit heidnische Züge. Es ist zu vermuten, dass beide Orientierungen eigentlich von spirituellen Einsichten keine Ahnung haben und deswegen dogmatisch und ausgrenzend reagieren. Ihr Urteil ist das letztgültige, Zweifel an der eigenen Wahrheit werden so eliminiert. Dieses Fehlen von spirituellen Erfahrungen der Emergenz und der Transzendenz wirkt sich dann entsprechend trennend und verfehlend aus. Man kann fast sagen, dass die Wahrheit nicht durchscheint, wenn ich nicht in der Lage bin, den höchsten Standpunkt einzunehmen. Das Leben bleibt seltsam flach und ideologisiert sich gegen andere Ideologien.
Es geht nicht um einen unbegründbaren Mystizismus, sondern um Erfahrungen von Einheit und Sinn. Von hier aus können ungute Verstrickungen und Ärgernisse aufgelöst werden. Auch der Nährboden für Traumata kann hier überwunden werden. Ich durchschaue die Defizite bei anderen wie die eigenen und bin in der Lage, mich der Wahrheit anzunähern, ohne dass mich das aus der Bahn wirft. Ich löse ungute Zusammenhänge auf durch ihre Erkenntnis, die den Wandel einleitet. Für diesen Wandel benötige ich diese spirituelle und religiöse Energie, die mich zu einem authentischen Menschen macht, der sich als wirksam erlebt. Man muss also ganz zu sich gekommen sein, um wieder Abstand von sich zu erlangen. Das Leugnen einer höheren Macht und Energie hat aber dieselben Konsequenzen wie das Erleben eines Gottes als Richtender und Strafender: Das geistig-seelische Wachstum ist eingeschränkt. Das eigene Denken wird absolut gesetzt und ist von nun an maßgeblich. Kein Dialog kann daran wirklich etwas ändern, wenn die Erfahrung höherer Zusammenhänge fehlt. Beide schätzen die Realität falsch ein und lassen andere unter dem Mangel an Einsichten leiden. Volle Entfaltung ist hier eben nicht möglich, die ja erst tiefere Erkenntnisse zulässt für Reifung und Wachstum. Dafür brauche ich die Transformation über die Emergenz. Ändern kann ich nur etwas, indem ich genau erkenne, was ist. Auch die Kraft für das Unveränderliche erhalte ich in erster Linie über die spirituelle Orientierung, die keine Dogmen kennt, aber dafür die unbegrenzte Weite der Vernunft erfahrbar macht gegen alle weltlichen Konditionierungen. Wer diesen Raum der inneren Freiheit nicht erfährt, bleibt eben Heide und Fundamentalist. Beiden fehlt die Einsicht in das Wesen des Glaubens.
Ulrich Schabel: Die Vermessung des Glaubens. München 2010, 1. Auflage