Quo vadis?

Die Kirche will laut Kardinal Reinhard Marx den synodalen Weg beschreiten auch für die Aufarbeitung der Missbrauchsskandale. Aber ist sie wirklich bereit für Veränderungen und in welche Richtung? Eine De-Sakralisierung ist nicht erwünscht, aber hinter der Fassade befindet sich nur noch wenig Spiritualität.

Wenn man das doch eher voyeuristische Buch von Frédéric Martel liest, wird einem doch klar, dass die Mitglieder der Kirche doch sehr gewöhnliche – zum Teil eben auch kriminell – Menschen sind, die besser anderen keine Vorschriften in Bezug auf ihr Leben machen sollten. Da passt etwas nicht zusammen, denn nur wenn ich besser bin als der Durchschnitt, kann ich mich moralisch entrüsten oder auf moralische Mängel hinweisen. Eine Kirche, die Pädophile deckt, aber wiederverheiratete  Geschiedene sanktioniert, ist in ihrer Tiefenstruktur krank. Auch die Ultrakonservativen, die auf einer Konversionstherapie bestehen für die Überwindung der Homosexualität, sind nicht nur intolerant, sondern begreifen nicht die Berechtigung  der legalen Neigungen. Es kommt viel Unordnung in die Welt, wenn man erlaubte Neigungen nicht respektiert und Menschen in ihrem Innersten verändern will, denn Gesundheit bedeutet ja gerade die Akzeptanz der eigenen Neigungen auch gegen den Mainstream und gegen die Erwartungen anderer. Menschen, die zu einer unnatürlichen Haltung gezwungen werden, entwickeln meistens stark homophobe Einstellungen, die wiederum anderen sehr schaden. Wer nicht zu sich selbst kommen darf im Rahmen der Gesetze, der versagt es auch anderen, und so geht es dann virulent immer weiter.

Askese ist keine Schande

Man möchte der Kirche raten, Menschen zu mehr Authentizität zu verhelfen, um das zu sein, was sie sein wollen. In einer gerade durch den Kapitalismus und das Internet sexualisierten Gesellschaft – hier argumentiere ich gegen Max Weber- ist es nicht leicht, keusch zu leben. Auch das Verbot der Ehe mag zur Kriminalität ( Pädophilie) und einer Homosexualisierung beigetragen haben. Wir wissen, dass nicht jeder keusch leben kann und es auch einfach nicht will. Es kommt überall zu einem sehr unheilvollen Doppelleben auch unter Verheirateten, die eigentlich homosexuell sind, aber nach außen hin eben homophob. Die Verhältnisse sind sehr paradox und wenig überzeugend. Heilig sind eben nur ganz wenige, die sich dann auch für die Asexualität entscheiden können. Sexualität ist kein Grundbedürfnis, wird aber als solches behandelt. Man kann ohne sie leben, ohne Schaden zu nehmen oder neurotisch zu werden, wenn es eine bewusste Entscheidung ist, die aber Charakterstärke voraussetzt. Der Verzicht auf Sexualität wird mit einer besonderen Glücksfähigkeit belohnt, mit innerer Freiheit  und mit einem höheren Bewusstsein, das auf andere wirkt. Diese Präsenz war ein Teil des Charismas der katholischen Kirche und bröckelt nun dahin.  Die Sexualisierung ist im Vatikan angekommen. Vielleicht fehlt es den Vertretern der Kirche einfach nur an Liebe, die sich dann zu einem Bedürfnis nach Sexualität entwickelt, der einzig möglichen Form der Nähe.

Frauenordination als Lösung

Die Kirche befindet sich in dem Dilemma, das Zölibat aufgeben zu müssen, um für die Liebe Raum zu schaffen, aber andererseits an den Vorzügen der Keuschheit und des Zölibats festhalten zu wollen, das aber immer weniger Menschen beherrschen oder leben wollen. Der Philosoph Jacques Maritain und seine Frau Raissa lebten in ihrer Ehe in Keuschheit und wurden von der katholischen Kirche verehrt. Zu dieser Art Liebe, die nicht instrumentalisiert und nicht körperlicher Natur ist, sind die Wenigsten fähig. Man kann das nicht zum Maßstab machen. Sicher ist, dass von solchen Ehen eine Faszination ausgeht, eine Intensität der Verbundenheit. Auch hier sind wir mit der Erkenntnis konfrontiert, dass Sexualität eben stark profanisiert. Sie zu etwas Spirituellem zu erheben, gelingt nicht, denn ihre Freuden sind sehr irdischer Natur., betreffen den Körper und nicht den Geist. Wie also könnte die katholische Kirche reagieren, wenn sie wieder zum Vorbild für Menschen werden will? Sie muss vor allem ihre Frauenfeindlichkeit überwinden und einsehen, dass nicht die Frau verführt, sondern der Mann seine Triebhaftigkeit kultiviert. Frauen sind eher zum keuschen Leben bereit und auch befähigt. Dieses Potenzial links liegen zu lassen, ist nicht nur nicht zeitgemäß, sondern eine Dummheit. Mit Frauen könnte sie das Zölibat retten und zu einer neuen Kultur der Emanzipation beitragen. Dagegen sind wiederum die fundamentalen Ultrakonservativen im Vatikan, deren Macht ungebrochen ist, auch wenn der Papst einen liberaleren Kurs fährt.  Jedem den Wunsch nach Sexualität zu unterstellen als freudianisches Erbe ist ebenso falsch wie sie zu leugnen. Es gibt sie, aber wir sind ihr nicht ausgeliefert. Keuschheit wird gesellschaftlich geächtet, aber kirchlich verehrt. Sie sollte etwas Freiwilliges und vollkommen Gewaltloses sein.

Transparenz schafft Vertrauen

Die Kirche und assoziierte Institutionen sind bekannt für ihre Verheimlichungen und Verweigerungen von Dialogen. Hintergrund hier sind meistens eigene Verfehlungen, die vertuscht werden sollen. Nicht darüber zu reden ist für diese Menschen wie eine Absolution. Doch funktioniert dieser Wunsch nicht, denn meistens kommt doch irgendwann vieles ans Licht und will dann eben auch bearbeitet werden, denn Menschen möchten nicht getäuscht werden. Wenn eine Kirche und ihre Vertreter auch in dubiose politische Verhältnisse verstrickt waren und sind, hat die Öffentlichkeit ein Recht, das zu erfahren, um sich dann auch zu fragen, welches Recht vonseiten der Kirche besteht, anderen moralische Vorschriften zu machen. Hier steht die Glaubwürdigkeit auf dem Spiel. Zurückgewinnen kann man sie nur, wenn man der Macht abschwört und die Wahrheit präferiert, die nur im ständigen Diskurs zu haben ist. Tradition und Moderne stehen dann nicht mehr unvermittelt und unversöhnt nebeneinander. Dieser offene Diskurs könnte sich auch heilsam auf die Kirche auswirken. Eine zu weit gehende Säkularisierung bedeutet eben auch eine De-Sakralisierung, was nicht gewollt sein kann. Affirmative Spiritualität ist auch eine Sphäre der Entwicklung, die vielfältiger sein kann, als sie zurzeit praktiziert wird.

Frédéric Martel: Sodom. Frankfurt am Main. 2019

Das deutsche Gesundheitswesen ist ein Entmündigungssystem

Zu oft hört der Patient: Ihre Krankheit ist unheilbar! Aber gibt es überhaupt wirklich unheilbare Erkrankungen oder nur ein Gesundheitssystem, das nicht die Kompetenz hat zu heilen, weil es von der Kompetenzerweiterung abgeschnitten ist? Viele sprechen heute von ihren erfolgreichen Selbstheilungen oft sehr schwerer Erkrankungen durch affirmative Suggestion

Wir sind immer wieder mit Spontanheilungen von schwersten Erkrankungen konfrontiert. Hier hat ein Mensch kraft seines Geistes die Entgleisung seines Körpers überwunden, der mit Mitteln der Medizin nicht heilbar war. Nun ist die Medizin aber eine Naturwissenschaft und hält nicht viel von immateriellen Behandlungsweisen wie die über Energien und Informationen. Dabei weiß die Alltagserfahrung, welche Macht negative und positive Gedanken haben. Der Deutsche schaut Krimis und geht in erster Linie wegen jedem Wehwehchen zum Arzt. Der verschreibt ein Medikament und gegen die Nebenwirkungen weitere Medikamente und so fort, bis der Mensch keine Chance mehr hat, sich selbst zu heilen. Es wird weiterhin vonseiten der Materialisten gegen ganzheitliche Behandlungsweisen gewettert, sie seien unwirksam, was die Realität allerdings eindeutig widerlegt. Placebo- und Noceboeffekt sind bewiesen, aber man hält weiter am Materialismus fest  und drängt die Geisteswissenschaft weiter in den Hintergrund, will sie auf allen Ebenen marginalisiert wissen.

Die Kraft des Geistes

So wie wir darauf achten sollten, die linke und die rechte Gehirnhälfte zu aktivieren für rationale Intuition und damit verbundenem Mitgefühl und Emapthie, so haben die Geisteswissenschaften die Aufgabe, unsere Geistesvermögen zu stärken und zu beleben. Wer geistig aktiv ist, d.h. selbst denkt und sich nichts vorschreiben lässt, der wird sich auch nicht so schnell vom Materialismus beeindrucken lassen, der viele Krankheiten nicht nur nicht heilen kann, sondern sogar verschlechtert. Das gilt insbesondere für mentale Erkrankungen. Man sucht nach immer neuen Mitteln und setzt viele Hoffnungen auf die künstliche Intelligenz, anstatt die Kraft des natürlichen Geistes zu unterstützen im Sinne Kants ’sapere  aude‘. Den eigenen intuitiven Verstand zu nutzen ist ein Schutz vor Entmündigungen durch ein Gesundheitssystem, gegen das es ja auch eine Menge Vorbehalte gibt. Der Mensch muss befähigt werden, für seine Gesundheit Verantwortung zu übernehmen, indem er die mentalen Ressourcen sinnvoll einsetzt. Wie wichtig Geisteswissenschaften auch im gesundheitlichen Sinne sind, beweist nicht nur ihre kulturelle Relevanz, sondern ihr Einfluss auf unsere Selbstbestimmung. Freie Zeit kann vergeudet werden oder sie wird für die Aktivität geistiger Prozesse eingesetzt.

Die  Ursache zu erforschen bedarf hoher Differenzierungsfähigkeit

Nach einer harten Arbeitswoche kann ein gutes Buch die Ressourcen auffüllen, weil der Prozess des Lesens aktiviert. Es ist kein rein passiver Akt. Wenn ich durch die Auseinandersetzung mit den Gedanken anderer in ein eigenes Denken komme, bin ich in dieser Selbstwirksamkeit auch mächtig gegenüber den eigenen inneren Prozessen, die auf geistige Aktivität ansprechen. Kombiniere ich das mit körperlicher Bewegung, leiste ich täglich etwas Gutes für meine Gesundheit. Sport allein erzeugt wohl eher keine neuen stabilen synaptischen Verschaltungen.  Die erhält man durch den Selbstausdruck im Dialog mit anderen, deren Gedanken in Büchern und Artikeln dokumentiert sind.  Der Rückgang des Ansehens von Geisteswissenschaften ist ein Warnsignal bezüglich einer einseitigen materialistischen Sichtweise des Menschen, der vor immer größer werdenden unlösbaren Problemen steht. Mentale Probleme können nur über mentale Prozesse geheilt werden und nicht über materielle. Eine Symptombehandlung muss von einer Ursachenbehandlung, die mit einem hohen Differenzierungsbedarf verbunden ist, begleitet oder sogar ersetzt werden auch aus ethischen Gründen. Dieser Ansatz einer reinen Symptombehandlung macht Störungen zu unheilbaren Erkrankungen, da hier eine Abhängigkeit erzeugt wird ohne Chance auf Selbstheilung und deren Unterstützung. Medikamente können sogar die Selbstheilungsprozesse unmöglich machen. Eine Unterlassung psychotherapeutischer oder mentaler Therapien sollte verklagbar werden. Die Vorurteile der Materialisten haben sich gesellschaftlich durchgesetzt zum Schaden von Patienten. Man kann also nur jedem Kranken raten, die Gesundung in die eigene Hand zu nehmen oder sich einen Arzt zu suchen, der etwas von ganzheitlicher Behandlung versteht.

Bewusstseinsarbeit leisten gegen Ablenkungen

Clemens Kuby ist ein Kritiker der Schulmedizin, die ihm Unheilbarkeit attestiert hatte. Er hat sich nach seinem schweren Unfall, der zu einer Querschnittslähmung geführt hat, gefragt, was in seinem Leben nicht stimmt und hat es geändert vorerst in Gedanken. Er wurde geheilt und kann sich heute normal bewegen. Viele Dinge hängen miteinander zusammen, sie müssen bewusst gemacht werden. Und Bewusstseinserweiterung, die leicht durch Askese erreicht werden kann,  ist heute kein esoterischer Begriff mehr, sondern beinhaltet die Möglichkeit, viel über sich selbst und die Welt zu erfahren. Man lässt sich hier nichts mehr vormachen  und wehrt sich gegen ein Verblödungssystem, das den unaufgeklärten Menschen zum Maßstab gemacht hat. Aber: Der  Körper ist durch den Geist veränderbar! Jeder, der an einer Erkrankung leidet, sollte sich bewusst machen, dass er über enorme eigene Kräfte verfügt, die er nicht durch Dauerablenkung und -unterhaltung vergeuden sollte. Bibliotheken sind daher wahre Heilanstalten und Bücher sind umfangreiche Briefe von Menschen, die es gewagt haben, selbst zu denken.

Nicht die Welt als Wille und Vorstellung

Clemens Kuby schlägt die Imagination und die Visionierung vor.  Es muss allerdings kritisch angemerkt werden, dass es sich nicht um die Welt als Wille und Vorstellung handeln kann, die auch Schopenhauer fälschlicherweise Hegel unterstellte. Vielmehr geht es um die kritische Auseinandersetzung mit der Welt, in die ich mich so einbringe, dass meine Ziele auch Realität werden können. Ohne diese Differenzierung bleibt die Imagination unreif und naiv und kann zur Schädigung anderer führen. Geheilt bin ich dann, wenn ich mich durchhalte in Übereinstimmung mit dem real Möglichen. Wille und Gegenwille z.B. bezüglich einer Partnerschaft bildet keinen Kompromiss, sondern setzt die Grenze des Machbaren. Nicht alles ist veränderbar. Das Falsche bzw. das Unpassende muss überwunden werden.

Clemens Kuby: Mental Healing. München 2010. 5. Auflage

Die Freude an der Arbeit und zurück zu Rousseau

Thomas Hohensee hat ein Buch geschrieben mit dem Titel Das Lob der Faulheit. Es geht hier aber nicht um das Nichtstun, sondern um die Abwehr des blinden Aktionismus. Er meint, wir sollen nachdenken über das, was wir tun und sollten uns nicht ständig verbiegen. Herauszufinden, was man wirklich gerne tut und damit auch noch seinen Lebensunterhalt verdient, kann glücklich machen. Deutschland hat vermeintlich das beste Gesundheitssystem der Welt und prozentual die meisten Kranken. Da fällt wohl jedem auf, dass hier etwas im Lande nicht stimmt. Preußische Tugenden wie Disziplin und Fleiß sieht Hohensee besonders kritisch, denn sie sind Ausdruck von Zwang und Fremdbestimmung, die früher oder später eben krank machen oder doch sehr, sehr unglücklich, denn man erfüllt nur anderer Leute Vorstellungen und hat nicht seine Fähigkeiten optimal entwickelt, die sich durch Motivation und Freude an der Arbeit auszeichnen. Die dritte industrielle Revolution (gleichnamiges Buch) , die sich nach Jeremy Rifkin als lateraler Markt in und durch Vernetzung von Mikrokraftwerken ohne fossile Brennstoffe etablieren könnte, bedarf anderer Einstellungen und vor allem der Fähigkeit zum Selbstdenken, Selbstorganisieren und der Reflektion, die reines Funktionieren infrage stellt, wie Armin Nassehi in Muster andeutet.

Wir rühmen uns damit, dass wir es doch weit gebracht haben und heute ein bequemes Leben als selbstverständlich betrachten. Vieles ist einfacher geworden, aber wir sehen, dass wir einen hohen Preis gezahlt haben und nun mit dem Klimanotstand oder -notfall  konfrontiert sind. Haben wir es zu weit getrieben oder wurde zu lange unter den Teppich gekehrt? Nun, dasselbe gilt für unser Ausbildungs- und Bildungssystem, das sich den veränderten Bedingungen nicht anpassen will. Wir bleiben hier weitgehend unaufgeklärt und machen so lange weiter, bis das nächste System an die Wand fährt. Es gibt optimistische Utopien, die eine Realisierungschance haben, wenn man sie denn endlich auch als praktikabel einsehen würde. Und eine dieser Utopien ist die Tatsache, dass Arbeit sehr viel Spaß machen kann, wenn man das Verbildungssystem endlich aufgeben würde und im Rousseauschen Sinne die Menschen in ihren natürlichen Fähigkeiten befördern und unterstützen und nicht durch ein überholtes Leistungssystem aussortieren, frustrieren oder sogar schädigen würde. Die Freilerner wissen, dass nur die Bildung wirklich zählt, die von eigenem großen Interesse begleitet ist. Hier hat der Mensch dann auch später Erfolg und muss sich nicht unter seinem Wert verkaufen.  Solange aber ein Zwangsstaat Menschen zur entfremdenden Arbeit anweist, solange wird es auch eine Zunahme von Erkrankungen geben, die man auch als Folge der Nichtentfaltung betrachten muss. Schließlich kann der Hase auch nicht fliegen und ein Schule, die von ihm dies verlangt, ist eigentlich nur grausam und initiiert das Scheitern.

Menschen wollen aber erfolgreich sein mit dem, was sie tun und auch genügend Geld verdienen. Das ist im Zeitalter der Digitalisierung wirklich nicht zu viel verlangt. Die künstliche Intelligenz kann vieles besser als der Mensch, aber sie kann nicht nachdenken und sie ist nicht kreativ. Es sollte sich auch herumgesprochen haben, dass Kreativität glücklich macht. Und würde die BRD endlich auch das Glück in die Verfassung aufnehmen, wären wir schon einen Schritt weiter in der Menschenkunde. Denn der Mensch will  nicht herumhängen, sondern er möchte sinnvolle Arbeit tun und in Kontakt mit anderen sein. Letztlich will er sich bewegen und sich ein Leben lang entwickeln, wenn er gesund ist. Diese Erkenntnisse muss ein Staat auch umsetzen, anstatt auf einer Leitkultur bestehen, die als reine inhaltslose Leistungskultur veranschlagt wird. Wer hier nicht mitmacht, wird geächtet. Aber wir brauchen mehr und mehr Menschen, die sich über ihr Tun Rechenschaft ablegen, um noch in den Spiegel schauen zu können und sich vielleicht wieder selbst entdecken. Die Entfremdungsmechanismen sind sehr virulent und manch einer wacht erst nach dem ersten Herzinfarkt auf, der ja eine Vorgeschichte hat. Könnte nicht alles ein wenig entspannter und natürlicher ablaufen, so dass wir zu einem neuen Verhältnis zu uns selbst kommen, dass sich in dem demokratischen Willen äußert, nicht mehr alles mitzumachen und sich alles gefallen  zu lassen, was man so als notwendig und unabdingbar deklariert?

Hohensee schreibt: „Trotz Disziplin und Fleiß haben wir keinen sozialen Frieden in Europa, kein Gesundheitssystem, das zu völligem körperlichen, geistigen und sozialem Wohlbefinden führt, keine Schulen, die die SchülerInnen zu einem glücklichen, zufriedenen Leben befähigen, keine Justiz, die Gerechtigkeit schafft, keine Politik, die das Wohl der Allgemeinheit garantiert, keine Wirtschaft, die unser Überleben dauerhaft sichert. “ Das Leben muss also wieder zur Besinnung kommen : Die vita activa muss durch die vita contemplativa ergänzt und bewertet werden, damit wir zu wirksameren Einsichten und Entscheidungen fähig werden, die dann eine andere Politik ermöglichen, die gerechteren Wohlstand und damit auch zu besserer Gesundheit führt, denn Armut ist ein hohes Krankheitsrisiko und darf außerhalb eines Klosters nicht schön geredet werden. Der Mensch als Bürger ist nicht der besinnungslos Aktive, sondern der Nachdenkende und Verstehende.

Thomas Hohensee: Das Lob der Faulheit. Gütersloh 2012. 1. Auflage

Armin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. München 2019

Jeremy Rifkin: Die dritte industrielle Revolution. Frankfurt am Main. 2011

Jean Jacques Rousseau: Emile oder über die Erziehung. Paderborn 1975. 3. Auflage

Jean Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts. Stuttgart 1978

Die Macht des Verzichts

Vor allem in der indischen Tradition hat die Askese eine wichtige Funktion. Dabei ist zu betonen, dass sie nicht nur  persönlich spirituelle Vorteile hat , sondern sich auch auf die Gesellschaft auswirkt. Der Vegetarismus im Jainismus beispielsweise beinhaltet das Nichttöten von Tieren, auch weil Gewalt in jeder Form abgelehnt wird. Eine gewaltlose Gesellschaft ist etwas äußerst Erstrebenswertes. Auch der Nebeneffekt einer ökologischen und ethischen Haltung der Tierwelt gegenüber wäre damit verbunden – unabhängig davon, ob man an Wiedergeburt glaubt oder nicht. Also es geht um weniger Aggressivität durch Askese, die sich durchaus auf den Verzicht der Sexualität bezieht, die ja auch von aggressiven Impulsen durchsetzt ist. Eine so besänftigte Gesellschaft entwickelt keinen Hass gegen andere, der ja ohnehin eine Selbstschädigung ist, denn er stresst den Organismus erheblich. Bei Asketen handelt es sich um Menschen, die zu einer hohen Selbstkontrolle selbst über körperliche Funktionen in der Lage sind. Es ist damit eine Vervollkommnung des Menschseins für eine evolutionierte Gesellschaft verbunden und nicht nur eine individuelle Entscheidung ohne Auswirkungen.

Ahimsa bedeutet Gewaltlosigkeit und ist ein entscheidendes Moment in der indischen Denkweise auch seit Gandhi.  Sri Aurobindo besagtebenfalls, dass das supramentale Wissen ja nicht nur einen subjektiven Nutzen hat, sondern auch eine Veränderung des Umfeldes damit verbunden sein könnte, wenn die Prinzipien begriffen werden und gerade das Absehen von Erfüllung subjektiver Bedürfnisse Heilung verursacht. Es geht hier nicht um den Totalverzicht, der für viele unmöglich ist, aber um eine Richtungsweisung, dass weniger manchmal mehr ist. Auch die Dankbarkeit für das, was ist, nimmt zu und  die Gier nach immer neuen Produkten und Ablenkungen wird geschwächt. Die Macht des Verzichts bedeutet nicht die Macht über andere oder übernatürliche Kräfte, sondern sie beinhaltet ein besonderes und klares Bewusstsein für das Dasein. Diese Veränderung des Bewusstseins durch das supramentale Wissen kommt der Gesellschaft zugute, weil sie eine neue Orientierung in Zeiten der Bedrohung auch durch den Klimawandel erhält.

Moksa beinaltet die Befreiung oder Erlösung eines Menschen durch die Askese. Dieser Mensch ist kein Getriebener, der andere unter Druck setzt oder gefährdet. Er hat seinen Weg zur Erleuchtung gefunden, indem er verzichtet. Wem dies möglich ist, der hat ein anderes Verständnis bezüglich der Möglichkeiten menschlichen Daseins und hofft auf die Veränderung aller in eine heilsame Richtung. Er ist also ein Vorbild für eine gierige Gesellschaft, die die Realitäten schon lange nicht mehr wahrnimmt, weil sie ständig abgelenkt und unterhalten wird. Man spürt: Der Mensch soll gar nicht zu sich selbst kommen. Das ist das Paradigma der westlichen Welt. Der Mensch soll irgendwie funktionieren, auch wenn es ihn die Gesundheit und das Glück kostet. Das Glück des Verzichts kann nur der verstehen, der an die Evolution einer Gesellschaft glaubt, zu der der Mensch fähig wäre und alle in Frieden miteinander leben könnten, ohne dass alle auf eine Linie gequält werden. Wir begreifen den Nutzen des Asketen  nur dann, wenn sein Verhalten ein Maxime werden kann, die zum Nutzen aller wirkt. Schon Kant wusste, dass Völlerei und Wollust nur zur Gesetzlosigkeit führen und deswegen überwunden werden müssen. Wir dürfen uns nicht eine moralinsaure Gesellschaft vorstellen, sondern eine sehr bewusste und geläuterte, die um die Folgen ihres Handelns Klarheit hat. Dass wir also dieses supramentale Wissen aus der Askese dringend brauchen, dürfte sich von selbst verstehen. Auch wenn Indien heute ein armes Land ist, können wir von seiner Philosophie und Religion lernen und uns zu freieren Menschen entwickeln, die von sich selbst absehen können. Diese Utopie ist heute wichtiger als der technische Fortschritt.

Innere Heilung und Denken

Descartes war der Meinung, der Organismus sei eine Maschine und würde nach diesen Gesetzmäßigkeiten funktionieren. Aber die Placeboforschung hat gezeigt, dass auch die Psyche oder der Geist heilen, indem suggeriert wird, dass man ein Präparat erhält, das Heilung bewirkt. Allein die Vorstellungskraft ist hier am Werk. Dass man nicht erklären kann, wie eine immaterielle Entität des Geistes oder der Psyche auf etwas Materielles wie den Körper wirken kann, heißt nicht, dass es nicht möglich sei. Bis heute haben wir keine stichhaltige Argumentation, die die Wissenschaft benötigt. Aber wir wissen auch, dass es geht und diese Interaktion nicht darauf beruht, dass Psyche und Geist eben auch etwas Materielles sind, sondern eine eigenständige Macht der Einflussnahme auf den Körper. Wir machen eigentlich ständig die Erfahrung, wie negative Gedanken auf den Körper einwirken und unangenehmen Stress verursachen können. Sicher kommt Stress auch von außen, aber oft ist er auch selbst gemacht und bezieht sich auf negatives Denken. Diese Negativität führt zu einer Zunahme an Cortisol und kann Entzündungen im Körper auslösen. Chronischer Stress verkleinert den Präfrontalcortex und den Hippocampus, vergrößert allerdings die Amygdala, was zu einer erhöhten Angstbereitschaft führt. Was wir denken , erleben und tun, organisiert also unser Gehirn. Dieser Einfluss ist immateriell und sollte ein Bewusstsein schaffen für mehr Achtsamkeit sich selbst und anderen gegenüber.

Es geht also um die Selbstheilung, die eine Fähigkeit des Organismus ist, Krankheiten zu überwinden. Scheinbar kommt es dabei auf die psychischen und geistigen Energien an, die positiv gegen Erkrankungen eingesetzt werden. Mentale Faktoren sind hierfür verantwortlich. Tobias Esch nennt vier Merkmale für ein gesundes Leben: ausreichend Bewegung, gesunde Ernährung, stressreduzierendes Verhalten und regelmäßige Entspannung. Meines Erachtens gehört aber auch geistige Aktivität zu diesen Kriterien, denn die sorgt für  komplexe neuronale Verschaltungen im Gehirn, die das Wohlbefinden erheblich steigern können durch den Umstand, dass man durchblickt und die Dinge um einen herum aufmerksam wahrnimmt. Bewusste Wahrnehmung  mindert Fehleinschätzungen und verbessert das Urteilsvermögen. Vielleicht reduziert sie auch das Risiko, an Alzheimer zu erkranken.  Wenn ich mein Gehirn also selbst organisieren kann, ist das eine aussichtsreiche Entdeckung und sollte entsprechend kommuniziert werden. Und ist die Idee, dass sich der Mensch lebenslang entwickeln kann, nicht eine hoffnungsvolle Perspektive, die zur erhöhten Wachsamkeit und Zuversicht veranlasst?

Viele auch körperliche Krankheiten werden durch Stress ausgelöst. Wer Stress hat, der fühlt sich meistens nicht mehr wohl in seiner Haut, Fettstoffwechselstörungen, Herz-Kreislauferkrankungen, Bluthochdruck und Darmprobleme etc. können die Folge sein. Geht man damit zum Arzt, bekommt man Medikamente, anstatt erst einmal den inneren Arzt zu mobilisieren und die Ursachen für den Stress durch Bewusstseinsarbeit zu analysieren. Oft lindert schon die Erkenntnis der Zusammenhänge die Symptome. Auch Dankbarkeitsübungen können Stress reduzieren und zu neuer Lebensqualität führen, die aus der Opferrolle herausführt in den Weg des Handelns, der Selbstwirksamkeit.  Auch die Achtsamkeit ist ein probates Mittel zur Selbstregulierung, die die eigenen Ressourcen stärkt und generiert.  Erst wenn der Stress beseitigt ist, kann sich der Mensch seinen Ressourcen widmen und sich fragen,  was er von diesem Leben will und was er beitragen möchte. Dass sich die Universität Witten-Herdecke dem Thema Selbstheilung angenommen hat, ist eine Ausnahmeerscheinung, da die Universitäten der integrativen Medizin skeptisch gegenüberstehen und sie aus dem Wissenschaftsbetrieb am liebsten verbannen möchten. Aber der Mensch ist mehrdimensional und braucht unterschiedliche bzw. ganzheitliche Herangehensweisen an sein Problem. Dass Gedanken auf den Körper oft über das  limbische System (älteres Gehirn) wirken, ist unbestritten. Unser Denken und Handeln moduliert das Gehirn. Dieses Bewusstsein sollte Grund zur Hoffnung sein, dass vieles selbst reguliert werden kann.

Mentale Stärke und Willenskraft (Präfrontalcortex) kann Berge versetzen. Daran kann man arbeiten, das kann man üben. Wer seine mentalen Kräfte sinnvoll einsetzt, kann eben auch kleine Wunder bewirken und sich einen Lebenstraum verwirklichen, anstatt abzubauen und sich in Krankheiten zu verlieren. Letztlich geht es um Prävention, um die Dinge, die wir täglich für uns tun können, damit wir nicht anderen eines Tages zur Last fallen. Dieses Bewusstsein sollte die Köpfe der Menschen rechtzeitig erreichen, denn wer einmal nur noch von Ärzten abhängig ist, der entwickelt kaum noch Eigeninitiative für ein gesünderes Leben. Die Einsicht in die Macht des Geistes und der Psyche ist ein erster Schritt in eine Selbstverantwortung, die auch glücklich macht gegen das Gift der Moderne: Stress. Es ist aber durchaus möglich, die Stressregulation durch Meditation und Yoga (hier auch die Gedankenkontrolle!)  zu lernen, so dass keine Schädigungen des Gehirns und des Organismus eintreten. Psychischen und physischen Erkrankungen kann so vorgebeugt werden. Diese Selbstkontrolle ist überlebenswichtig, denn Stress kann tödlich sein.

Tobias Esch: Der Selbstheilungscode. Die Neurobiologie von Gesundheit und Zufriedenheit. Weinheim 2017

Harald Walach: Heilung kommt von innen. München 2018

Jo Marchant: Heilung von innen. Die neue Medizin der Selbstheilungskräfte. Hamburg 2016

Fähigkeiten für die Zukunft

Die Bildungsforschung sowie die Medienwissenschaften konstatieren angesichts der Digitalisierung die 4 Ks für das zukünftige Denken, Lernen und Arbeiten. Kommunikation, Kreativität, Kollaboration und Kritik. Die Voraussetzung für alle diese Skills ist aber eine zunehmende bewusste Wahrnehmung, eine bewusstere Selbstreflexion, um die Dinge in der Welt besser beurteilen zu können. Ohne eine zunehmende Bewusstseinsarbeit werden die vier Kriterien ziemlich blutleer bleiben. Auch die Kommunikation muss insgesamt bewusster und gewaltfreier werden. Das gilt auch für den gesamten Bereich der Sprache, die sich ausdifferenzieren muss, um das Neue auch angemessen sagen zu können. Heidegger hat sich dieses Privileg in Sein und Zeit auch herausgenommen, um Dinge benennen zu können, die eine erweiterte Reflexion ermöglichen. Wir müssen also lernen, genauer zu sprechen und zu sagen, was wir meinen, damit wir nicht ständig missverstanden werden und so Probleme auftauchen, die sogar zu Erkrankungen führen können. Sicher, man muss auch frei von der Leber weg sprechen können, aber man muss sich auch der Begrenztheit dieses Sprechens bewusst sein und danach nach besseren Lösungen suchen, sich in den Dialog vertiefen und so die Bedeutungen ausloten. Das ist ein ständiger Entwicklungsprozess, den man nicht künstlich bremsen oder aussetzen darf, da auch hier nur negative Folgen zu erwarten sind.

In einer gelungenen Kommunikation geht es darum auszusprechen, was gerade in einem vorgeht, sich die unterschiedlichen Emotionen und Gedanken in einer Art Supervision bewusst zu machen, so dass der andere besser versteht, was er anrichtet (ich ärgere mich, weil …).  Marshall B. Rosenberg hat in seinem Buch Gewaltfreie Kommunikation darauf hingewiesen, dass die des Sprechens  zugrunde liegenden Haltungen deutlich gemacht werden müssen, damit eine Kommunikation nicht schlimmere Zustände verursacht oder die Kommunikation unterbrochen wird. Jeder kann darüber Äußerungen treffen, was seine eigenen Gefühle angeht. Diese Form der Selbstäußerung und Selbstreflexion befreit von Ängsten und Vorurteilen auch anderen gegenüber, weil die eigene Lage zunächst geklärt ist. Es gibt keine Situation, die man nicht in eine Sprache übersetzen könnte. Das Nichtaussprechenkönnen kann schwere Störungen verursachen und Depressionen manifestieren. Wer gelernt hat, in Schreibmeditationen (kein Tagebuch, das nur Äußerlichkeiten beschreibt, sondern ein Reflexionsbuch, das Gefühle und Gedanken formuliert) sich selbst zu erkennen, der kommt auch in der Kommunikation nicht in Bedrängnisse, Er vertraut sich und damit auch seinem Gegenüber, eine Lösung zu finden, die menschlich und rational ist. Den homo oeconomicus lassen wir lieber außen vor, denn die Vernunft allein findet nicht die beste Lösung für ein Problem. Der Mensch darf nicht in Konflikt geraten mit seinen eigenen Gefühlen. Er tut sich Gewalt an und wir entsprechend rücksichtslos gegen andere.

Ohne Zusammenarbeit manchmal eben auch mit Andersdenkenden (nur Gleichgesinnte führen in die Echokammer und damit zu einer gewissen Stagnation) hat die Evolutionskraft für eigene Ideen, die sich an der Kritik messen lassen müssen. Es geht auch hier um Informationsverarbeitung, die in geregelte Bahne gelenkt werden muss über Verständigung und Kooperation. Wir müssen also in der Lage sein, Andersdenkende miteinzubeziehen und entsprechend zu benennen, was vor allem auch im dialektischen Denken ein Prinzip ist. Um zu besseren Lösungen zu kommen, muss also kollaboriert werden, denn die Welt ist komplex und wird immer komplexer, so dass einfache Lösungen immer unwahrscheinlicher und vielleicht auch gefährlicher werden. Komplexität verlangt Fähigkeiten, die über den eigenen Horizont hinausragen und ein Einlassen auf den anderen Standpunkt möglich machen. Nur so kommen wir zu einer neuen Qualität des Zusammenlebens und -arbeitens. Diese Diskursfähigkeit schafft die Freiheit im Ausdruck, die uns von Konflikten erlöst und in eine gesündere Zukunft führt. Privates und Berufliches unterliegen denselben Anforderungen und können in ein sehr bewegtes und interessantes Leben führen, wenn Menschen sich auf das Abenteuer Kommunikation einlassen und sich von alten Mustern lösen für mehr Kreativität, die nicht selten einfach glücklich macht. Wenn man sich hier auch noch verständigen kann, ist doch Fortschritt möglich. und zwar ein Fortschritt, der auf vielen Ebenen notwendig ist.

Siehe auch: Marshall B. Rosenberg: Gewaltfreie Kommunikation. Paderborn 2. Aufl. 2002

Rechtsradikalismus

Wieder einmal hat ein Radikalisierter einen Anschlag auf Juden in Halle verübt. Wir sind fassungslos, aber eben auch aufgefordert nachzudenken, wie diesem gewalttätigen Extremismus begegnet werden muss. Es wird immer wieder deutlich, dass für die Menschen vor allem im Osten Deutschlands, aber auch im Westen zu wenig getan wird. Dabei geht es nicht um eine Dauerförderung, sondern um konstruktive und friedvolle Selbstermächtigungsstrategien, die durch das Sozialsystem teilweise unterminiert werden. Dass Menschen keine Hoffnung haben aufgrund eines zu geringen Einkommens, aufgrund von Zwängen in Bezug auf berufliche Integration, die dem Einzelnen und seinen Interessen und Fähigkeiten nicht gerecht wird sowie aufgrund fehlender Institutionen, die nicht bevormunden, sondern Angebote unterbreiten, die dem Einzelnen entsprechende Integration wieder möglich machen. Es ist und bleibt die Aufgabe, für den Einzelnen eine optimale Lösung zu finden. Das müsste auch ein wohlhabender Staat leisten. Angst, Zwänge und Dequalifizierung sind Gemeinschaft gefährdende Parameter. Eine neue Dynamisierung wäre ein Anfang gegen verhärtete Fronten.

Die Selbstgefälligkeit der Politik, die  nach Terroranschlägen wieder so tut, als hätte sie doch das Menschenmögliche getan, um Menschen zu motivieren und zu integrieren, wirkt angesichts auch der Schließung der Universitäten für die Öffentlichkeit zynisch.  Das elitäre Selektionsgehabe von Universitäten, die immer stärker eindimensionalisieren, ist Symbol für einen gesellschaftlichen Prozess der Desintegration breiter Bevölkerungsmassen, die sich selbst aufgegeben haben oder eben Feindbilder suchen, um ihrer Frustration Ausdruck zu verleihen. Eine Politik, die viel zu wenig auf die Komplexität einer Gesellschaft und einer Wirklichkeit reagiert, muss sich also selbst befragen, wo sie dauerhaft versagt. Menschen ohne Hoffnung greifen andere Menschengruppen ideologisch und faktisch an. Der Hass ist die Entladung von Resignation in Verbindung mit Aggression gegen einen Staat, der Reformen der Desintegration eingeleitet hat und nun auch zur Rechenschaft gezogen werden muss gegen eine nationalistischen Gruppenidentifikation mit etwas, das es gar nicht gibt.

Es ist  nicht richtig zu behaupten, dass seien eben schlechte Menschen, die nichts können und eben destruktiv sind. Das ist nicht die ganze Wahrheit, denn ein Mensch, der seine Aufgabe gefunden hat, sich gebraucht fühlt und genügend Einkommen hat für die Teilhabe an Gesellschaft, Kultur und Bildung, der wird auch nicht gewalttätig gegen andere. Nicht jeder kann aus dem Nichts etwas machen, deswegen muss ein Klima der Motivation und der Bereitstellung eines höheren Grundeinkommens gewährleistet sein. Wenn der Rechtsradikalismus verschwinden soll, muss der Staat Geld ausgeben für Menschen, die ihren Halt längst verloren haben und denen es egal ist, was man von ihnen denkt. Sie empfinden sich mehr oder weniger als Versager, was auch am politischen Narrativ liegt. Auch die zunehmende Normierung von Lebensläufen trägt nichts zur Lösung bei. Brüche im Leben dürfen keinesfalls diskriminiert werden, sondern können auch als Chance begriffen werden.

Es soll keine Entschuldigung sein, aber die Wurzeln des Rechtsradikalismus liegen in einem Staat, der sich als gut und gerecht geriert, es aber faktisch schon lange nicht mehr ist und der notwendige Reformen angesichts globaler Probleme immer wieder aufschiebt bzw. unterlässt.  Es ist einfach zu sagen, dass es eben solche faschistischen Gruppierungen gibt, die sich nicht belehren lassen. Bieten wir Ihnen doch einfach mal ein Programm an, das sie nicht abschlagen können.  Da es eine beträchtliche Anzahl Radikalisierter gibt, darf ihnen kein Forum der Aufmerksamkeit gegeben werden, sondern Angebote gegen den Hass, der nicht selten Ausdruck eines tief sitzenden Minderwertigkeitsgefühls der Ausgrenzung ist.

Auch die Gruppenidentifizierung verleiht diesen Menschen alternativ ein Gefühl der Macht, weil sie die Selbstermächtigung längst verloren haben. Sie arbeiten nicht mehr konstruktiv, weil sie ihr Bemühen als aussichtslos betrachten. Dagegen kann ein Staat besonders im Osten von Deutschland, aber auch im Westen viel tun. Weltoffenheit bedeutet eben auch eine innerstaatliche Offenheit der Systeme für mehr (freie) Bildung und Teilhabe, die in vielen Hinsichten institutionell nicht mehr gegeben ist. Es ist ein sehr ernstes Problem, das nicht gelöst wird, indem man lauthals (CDU) gegen durchaus gefährliche Menschen kämpft (und sie zu Verfolgten macht), sondern die Ursachen dieser Entgleisung und Kriminalität angeht. Das wäre eine sehr wichtige Aufgabe. Rechts- und Linksradikalismus sind ein Ausdruck dafür, dass die Politik versagt hat.

siehe auch unten: Theodor Adorno: Aspekte des neuen Rechtsradikalismus (Vortrag)

Außenansichten

Man kann Menschen weder als klug noch als weise betrachten, die sich nicht die Mühe machen, das Sein eines Menschen zu erkunden, das sich nicht über Erwerbsarbeit, Vermögen oder andere Äußerlichkeiten definiert. Diese Gesellschaft hat es verlernt, sich mit dem Wesen der Dinge zu befassen. Dazu bedarf es der Übung und des Interesses. Wenn mir die Außenansicht reicht, dann habe ich mich auch für ein  oberflächliches und entfremdetes Leben entschieden und bekomme auch entsprechende Antworten. Erich Fromm hat in seinem  immer noch hoch aktuellen Werk auch angesichts des Klimawandels und der extrem wachsenden Weltbevölkerung auf den Unterschied von Haben oder Sein aufmerksam gemacht und auf die verheerenden Folgen für unser psychisches Dasein und letztlich eben auch für das ökologische, wenn wir dem Haben weiter aufsitzen. Wir hängen eben mit der Natur zusammen und müssen ihr Sein für unser Sein verstehen und nachvollziehen. Die Pflanze wächst von innen heraus organisch und entwickelt so ihr äußeres Dasein. Der Mensch versucht es umgekehrt und richtet sich so gegen die Gesetze der Natur. Das innere Sein will er über das äußere Haben definieren. Aber diese Version ist nicht tragfähig, aus ihr kann sich nichts Gesundes entwickeln, da es sich auch allzu oft gegen andere richtet.

Die seelischen Kosten für eine außenansichtige  Gesellschaft sind hoch. Doch ein Umdenken findet nur langsam statt, da die Nachkriegszeit im Haben ihre Heilung gesucht und die Entwicklung eines stabilen und verlässlichen Inneren vernachlässigt hat. Sicher, Menschen möchten in sicheren Verhältnissen leben, aber auch die können angetastet werden. Die Zukunft der Digitalisierung wird das noch mehr zur Geltung bringen. Darauf ist die Menschheit schlecht vorbereitet. Es wird in Zukunft darauf ankommen, sich wieder mehr um ein Sein zu bemühen und Menschen unter diesem Aspekt zu erschauen. Nicht, was jemand darstellt, ist von Bedeutung, sondern was er seinem Wesen nach ist. Sicher, das muss sich nicht widersprechen, aber Erwerbsarbeit wird in Zukunft nicht die Dimension sein, über die sich Menschen identifizieren. Es kommt also auf ihre Verwirklichung an und darauf, ob diese gelingt, ohne die Natur und andere zu schädigen.

Eine Bereicherung ist die Verwirklichung, wenn andere sich gut fühlen und davon profitieren, dass Menschen sich entfalten in ihren Interessen, Fähigkeiten und Begabungen. Richard David Precht spricht ja schon von einem Ende der für uns selbstverständlichen Erwerbsarbeit. Was aber kommt dann? Gähnende Langeweile, Alkoholsucht oder andere bewusstseins-einschränkenden Tätigkeiten, die von der Sinnleere ablenken sollen? „Erwerben, Besitzen und Gewinnmachen sind die geheiligten und unveräußerlichen Rechte des Individuums in der Industriegesellschaft“, schreibt Erich Fromm, anstatt den neuen Menschen zu ermöglichen, der durch Charakter, Religion und Verwirklichung anderen Menschen und der Natur nicht mehr so viel antun muss, geschweige denn sie ausbeutet und schädigt. So können wir die Ursache unseres Leidens erkennen und überwinden und uns gegenseitig wieder in unserem Sosein erfassen als das, was wir immer schon sind: Menschen, die ein erfülltes und glückliches Leben wollen und verstanden werden möchten. Wer vorsätzlich Leid verursacht, hat sein eigenes Leid nicht bewältigt und versucht immer noch die Maximen des Habens zu erfüllen. Außenansichten können die Innenansicht völlig verschleiern, wenn man nicht gelernt hat, sich dem Sein eines Menschen und damit seiner Würde zu nähern. Die wird in Zukunft anders definiert werden müssen als über die doch zu einem Teil fragwürdig gewordene verallgemeinerte Erwerbsarbeit und ihre zum Teil verheerenden Folgen. Soziale Arbeit wird es allerdings immer geben. Precht stellt fest: „Beide Male glaubt man, ein halb totes Pferd weiter durchs Ziel reiten zu können: das über Erwerbsarbeit finanzierte Sozialsystem hier, das auf extrinsische Belohnung ausgerichtete Bildungssystem dort.“ Je unglücklicher und unentfalteter ein Mensch ist, desto mehr wird er Ressourcen verbrauchen als Entschädigung.

Aber man sollte nicht vergessen, dass ein Beruf, den man liebt und in dem man sich entfalten kann, dafür auch noch Geld bekommt, großes Glück ist. Entfaltung schützt auch vor krank machendem Leid. Daher sollte man sie allen Menschen gönnen und hier keine Exklusivrechte geltend machen. Nichtentfaltungarbeit muss gut bezahlt werden.

Erich Fromm: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Stuttgart 131.-140. Auflage 1979

Richard David Precht: Jäger, Hirten, Kritiker. Eine Utopie für die digitale Gesellschaft. München 1.Auflage 2018

Bleibende Schuld

Es ist bewiesen, dass es transgenerationale Belastungen gibt. So ist es auch nicht unmöglich, dass die Zunahme von mentalen Erkrankungen noch mit dem Dritten Reich in Verbindung steht. Die Nachkriegsgeneration leidet also höchst wahrscheinlich noch unter den Grausamkeiten der Deutschen gegenüber Juden und anderen Minderheiten. Und sie leidet wieder gegen das Vergessen. Es ist nicht vorbei und die Schuld wiegt weiter schwer. Teilweise sind Menschen mittelbar davon betroffen, obwohl sie keine direkten Opfer gewesen sind. Was ihnen bleibt, ist ein Bewusstsein zu entwickeln, dass sie Betroffene sind und erkranken durch die tiefe Schuld einer Nation, der sie angehören. Diese Betroffenheit irritiert immer noch im höchsten Maße, denn wir können uns nicht erklären, wie es dazu kommen konnte, dass eine Kultur des Denkens und der Zivilsation so zerstört werden kann. Dass es gerade die Deutschen betrifft, die mentale Erkrankungen entwickeln, ist also nicht so verwunderlich. Wir leiden immer noch unter diesen Greueltaten, die wir nicht begreifen, die aber so schwer belasten, dass einige erkranken. Also kann es auch kein Vergessen geben. So tragen wir mehr oder weniger bewusst diese schwerwiegenden Belastungen des Holocausts weiter aus und müssen sie auch entsprechend behandeln, indem wir eine Trauerkultur beibehalten, die mahnt, das Andere und das Fremde zu achten und die Verantwortung für Fehlentwicklungen oder Krisen bei sich selbst zu suchen.

Der grandiose Deutsche, der  wieder in seinem Wahn denkt, er sei die Krönung der Schöpfung, ist eine Zumutung, die einige nicht ertragen und sich von denjenigen verfolgt fühlen, die wieder deutschnationale Parolen unterstützen. Derartig deutsche Selbstverherrlichung ist nur Ausdruck eines berechtigten Minderwertigkeitsgefühls, das von schwachen Zeitgenossen nicht akzeptiert wird. Wer aber heute den Krieg für sein Problem verantwortlich macht, sollte genau bedenken, auf welcher Seite er steht. Hitler und die Deutschen haben den zweiten Weltkrieg zu verantworten und damit ein Grauen in die Welt gebracht, die die gesamte Zivilisation ruiniert hat in einer bestialischen Systematik, die eben noch viele Generationen danach betreffen wird. Diese Folgen sind schwer zu therapieren, wenn man sie nicht mitbedenkt. Sich verfolgt zu fühlen hat also gute Gründe. Das Grauen wirkt weiter und wird genau durch diejenigen wach gerufen, die die deutsche Schuld leugnen. Eine Verjährung  dieser Pathologie gibt es nicht. Die Verdrehung historischer Fakten hat Methode und ist nicht nur Dummheit. Dass es deutsche Nachkommen sind, die unter der damaligen Vernichtung leiden, ist ein Teil der Verarbeitung von Schuld.

Die Gründe für den Ausbruch von Vernichtungsgewalt liegt in einem existenziellen Bedrohungsgefühls, das nach Schuldigen sucht., um ein Ventil für die damit verbundenen Aggressionen zu schaffen.  Das galt nie für die gesamte Bevölkerung. Bildung ist ein gewisser Schutz vor solchen Primitivismen, aber kein hinreichender. Wer nicht gelernt hat, seine Triebe zu hinterfragen oder zu beherrschen, der bleibt ihnen ausgeliefert. Das Animalische ist nicht das Gute im Menschen, sondern kann zu tödlichen Aggressionen führen. In der Schuldzuweisung manifestieren sich Aggressionen gegen eine Religion oder ein Volk, das ja real niemals für eine negative Entwicklung verantwortlich ist. Wir sind alle Menschen mit denselben Veranlagungen und Problemen. Hier setzt die Bewusstseinsarbeit an, die sich über das subjektive Bewusstsein in den Bereich des überindividuellen Überbewusstseins hineinentwickelt, wenn der Mensch durch Askese seine Triebstruktur überwindet und problematisiert. Die Entwicklung der inneren Freiheit ist ein Schutz vor den Ausbrüchen von Gewalt und Zerstörung und sollte auch so früh wie möglich vermittelt werden, anstatt so zu tun, als wäre die Triebstruktur eine gesunden Verfassung. Sie ist der noch nicht ganz zu sich selbst gekommene Mensch, dem sich die Ganzheit seines Daseins in der Möglichkeit zur Vollkommenheit im göttlichen Überbewusstsein noch nicht erschlossen hat. Die Aufarbeitung von Schuld im völkerrechtlichen Sinne gelingt nicht ohne die Einsicht in die Verfassung des Menschen an sich.  Es geht nicht darum, dass der Mensch auf alle seine Triebe verzichtet, aber um sich weiß, dass er verzichten kann, ohne dass dieser Verzicht zu Hass, Aggressionen und Gewalt führt. Der erarbeitete Abstand zu sich selbst und die Selbstrelativierung ermöglichen den inneren Frieden auch in schwierigen Zeiten. Das ist erlernbar und nicht von Gnade abhängig. Wir stehen also dem Völkermord nicht ratlos gegenüber, sondern können uns in der vertikalen Verankerung tief transformieren und begegnen dem Anderen und dem Fremden über diese Orientierung im höchsten Bewusstsein als Gleiche.

Wenn Thomas Hobbes den Naturzustand des Menschen als aggressiv und gewalttätig bezeichnet, dann hat er den von sich entfremdeten unbewussten Menschen im Auge, der seine vielfältigen Triebe auslebt. Sein Menschsein ist sich seiner selbst nicht bewusst geworden. Er funktioniert auf einem Niveau des labilen Gleichgewichts. Ein Staatsvertrag reicht hier nicht aus, was die Geschichte lehrt. Der Mensch ist  „gut“, solange seine Triebe befriedigt werden und sei es nur der Geltungstrieb und er sich selbst nicht reflektiert. Das Dritte Reich hat gezeigt, dass nicht Kultur und Bildung vor solchen Atavismen schützen, sondern  die kontinuierliche Arbeit an sich selbst – das Bewusstsein, dass wir menschlich scheitern, wenn wir nicht über uns selbst hinauswachsen. Die Ambivalenz besteht darin, dass kollektive Schuld anerkannt werden muss, weil ihr unbestrittene Taten zugrunde liegen, aber von willkürlichen Schuldzuweisungen Abstand genommen werden sollte, die oft genug von eigenen realen Schädigungen ablenken und ein Interesse an der Verabreichung von Schuldkomplexen signalisieren. Ethik und Psychologie liegen nicht selten im Widerstreit. Es ist auch nicht legitim, allen Menschen schlechte Absichten und Gewalttätigkeit zu unterstellen, wie es in rechtskonservativen Kreisen üblich ist, um repressive und deliberale Gesetze durchzusetzen. Auch die Ethnologie hat gezeigt, dass auch der Naturzustand in Friedenszeiten eben gut ist.