Es gibt immer wieder Versuche, durch empiristisches Denken das menschliche Schicksal zu verändern. Wir wollen uns aber nicht nur verändern, sondern wir sehnen uns nach ganzheitlicher Heilung. Dafür brauchen wir aber die Metaphysik und die Spiritualität. Beides entdeterminiert und eröffnet freiheitliche Daseinsmodelle. Die Tendenz, Therapien zu verwissenschaftlichen, beraubt den Menschen seines höchsten Vermögens der Transformation durch Entbindung von Mechaniken und damit der Überwindung des Reiz-Reaktionsschemas, dem das Tier weitgehend ausgeliefert ist. Es ist nicht plausibel, dass die Veränderung von Reiz-Reaktionsmechanismen Heilung verschaffen soll, dies auch gar nicht kann, weil Glück eben nicht ein Resultat dieses Prinzips ist, sondern die Erfahrung von Freiheit und Selbstbestimmung. Das Selbst ist also vielmehr als eine Befriedigung von Trieben. Es denkt und will verstehen. Lust und Unlust sind empiristische Reaktionssweisen, die den nicht denkenden Menschen charakterisieren. Der rationale Mensch bedarf der Metaphysik, um sich selbst ganz erfassen zu können und um sich nachhaltig verändern zu können.
Die Erfahrungswissenschaften können nur einen Teil in uns ansprechen, decken aber nicht das ganze Spektrum unseres Daseins ab. Die Metaphysik überwinden zu wollen, bedeutet, den Menschen einzuengen und ihn auf den Status eines Tieres festzulegen. Sein wahres Menschsein zeigt sich aber erst in seinen freiheitlich-metaphysischen Kompetenzen, indem diese weit über ein Reiz-Reaktionsprinzip hinausweisen. Jeder kann sich zwar neu konditionieren bzw. programmieren, erfährt hier aber keine Heilung und kein inneres Wachstum. Er bleibt in einem einfältigen Mechanismus befangen. Gerade die Befreiung von mechanistischen Bedingtheiten ermöglicht nachhaltiges Glück und damit auch Heilung. Weder Soziologie noch Psychologie noch empiristische Philosophie beinhalten diese Erfahrung von Glück und Heilung. Die Überwindung von Kausalitäten birgt also diesen Befreiungsimpuls, an dem wir lebenslang arbeiten und uns teleologisch ausrichten. Wir dürfen davon ausgehen, dass wir unsere Seele befreien können auch von schlechten Erfahrungen, die nebensächlich werden, wenn wir uns von höheren Standpunkten aus betrachten.
Wir brauchen also die Metaphysik, um neue Möglichkeiten zu generieren und um uns aus dem Korsett der scheinbaren Notwendigkeiten zu befreien. Unsere Vorstellungs- und Gedankenwelt ist deswegen nicht irrational. Ich erweitere meinen Horizont auf das Mögliche und begrenze nicht auf das faktische Reale, das nur in den faschistoiden Fatalismus führt und Menschen sehr unglücklich und unzufrieden macht, was gesellschaftliche und psychische Konsequenzen hat. Die soziale Realität ist nur ein kleiner Baustein, der gegen ein begründendes Denken nur wenig Bestand hat. Ich entscheide, was mich prägt und bedingt und was mich befreit, so dass sich mein Geist öffnen kann für die Möglichkeiten des Seins. Ich kann meinen Geist befreien, er ist nicht das Produkt meines Gehirns, das mechanistischen Prinzipien folgt. Ohne dieses Wissen und ohne diese Erfahrung erfasst der Mensch nicht seine Daseinsmacht und -kraft. Erst aus der Verbindung mit einem universellen Geist werde ich ganz Mensch und befinde mich im Zustand der Einwirkung auf mein Selbst aus einem freiheitlichen Impuls heraus. Diese Transformationsmacht erhalte ich auch durch einen Glauben an einen Gott, der nur dann wirksam werden kann, wenn ich ihn auch gedanklich antizipiere. Ohne diese Verankerung bleiben meine Bemühungen, mich aus der Misere der Bedingtheiten zu befreien, fruchtlos. Wenn Alain Ehrenberg also von der Mechanik der Leidenschaften (2019) spricht, empfindet man solches Denken eher als einen Rückschritt im therapeutischen Kontext. Auch ein Nutzen von rein mechanistischer Denkweisen ist nicht erkennbar. Ehrenberg betont, dass ein Leid oder eine psychische Erkrankung nicht nur Handicap ist, sondern in einem Trumpf, in eine individuelle Befähigung verwandelt werden kann. Kognitive Verhaltensübungen kann man als notwendige Bedingung erachten, aber nicht als hinreichende. Die individualistische Potentialentfaltung hat immer auch eine soziale Dimension. Ehrenberg geht allerdings von einer neuronalen, psychen und sozialen Identität aus. Wenn ich aber über mein mechanisches Gehirn entscheiden kann, überwinde ich diese Determinierung und bin nicht identisch mit meinem Gehirn. Selbstkontrolle und Selbstregulation können eine Veränderung und einen Wandel bewirken, weil es sich um eine unabhängige Entität handelt. So weit geht Ehrenberg in seinem Buch nicht. Leid ist eine Mechanik, die ich überwinden kann.
Alain Ehrenberg: Die Mechanik der Leidenschaften. Berlin 2019