Die Ätiologie einer Erkrankung
Hölderlin war Dichter und wollte nie etwas anderes sein. Die Liebesbeziehung zu Susette Gontard, einer verheirateten Frau mit vier Kindern, hat ihn wohl zerrüttet wie auch die Hauslehrertätigkeit, die nicht seiner selbst gewählten Identität entsprach. Es war nicht der Reiz des Verbotenen, sondern die verletzte Leidenschaft durch Aussetzung der moralischen Regeln, wie sie auch in der griechischen Mythologie vorkommt. Somit ist diese keine Orientierung, sondern eher Katharsis, die Schrecken verarbeitet. Durch reine Seelenkräfte, die die Vernunft einschränken, wird der Mensch gespalten und kann sich verirren. Das Gebot Du sollst nicht die Ehe brechen – damit ist nicht die Scheidung gemeint, sondern eben der Ehebruch bei Weiterbestehen einer Ehe – regelt unser Zusammenleben. Diese Verletzung ist immer auch eine schwere Verletzung der Ehebrechenden und schwächt die Gesundheit, zerstört die universelle Verbundenheit, die als Glück erlebt wird.
Das Christentum versucht die Regeln für eine funktionierende Gesellschaft zu etablieren. Die griechische Mythologie enthält nicht diese klaren Regeln und widerstrebt dem Monotheismus, der ein Fortschritt in der Evolution der Menschheit war und ist, denn das Vollkommene wird als Einheit verstanden und nicht als Vielheit der Beliebigkeit. Der eine Gott ist sicher schwerer zu erfassen als die griechischen vermenschlichten Götter. Die Offenbarungsreligion beinhaltet ein tieferes Verständnis. Es sind nicht die ungebändigten Naturkräfte, sondern das einsichtsvolle Ich, das diese Regeln akzeptiert und damit erst die Grundlage für eine Gesellschaft schafft. Hier ist eben nicht alles erlaubt, unterliegt den Vernunft- und Verstandesbegriffen. Das gilt auch für die Theologie. Leidenschaft, die nicht glücklich macht, weil sie sich an nichts hält, nicht im Einklang mit Moral steht, zersetzt die Ordnung und damit den Geist. Sich selbst und andere zu verletzen durch seine Triebkraft schafft ein Klima der Gesetzlosigkeit, das auf die Person zurückfällt, die sich nicht in Verbundenheit mit der Umwelt erfährt, sondern als ihr Gefährder dasteht. Der Mensch wird krank, wenn er nur Widerstände erfährt und seine Leidenschaft nicht unter Kontrolle hat. Die Kontrolle zu verlieren mag eine gewisse Inspiration sein, aber führt nicht zum Glück des Eingebettetseins in eine Gesellschaft. Die Trennung von dieser verwirrt und belastet den Liebenden bis zur Aufgabe der Verbundenheit für eine Zweierbeziehung, die sich nicht erfüllt in einer Ehe. Tragisch sind die widerstreitenden Kräfte, die jede Einheit und Akzeptanz unmöglich machen Das Verbotene zersetzt die Vernunft und damit auch die Grundlage vernünftiger Verständigung mit dem Umfeld. Die Vereinzelung im Moralbruch schwächt die Integrität und Identität.
Der Dichter hält sich an nichts, was die Natur- und Seelenkräfte mindern könnte, sondern schöpft aus der Kraft der Sinnlichkeit, Worte für Gefühle zu finden. Wer die Welt so erfasst und das Empfinden des Schöpferischen loslöst von allen Regeln, der appelliert an die Sehnsucht des Unbedingten in der Individualität, aber nicht an den Zusammenhang. Die Unmittelbarkeit des Ausdrucks zählt mehr als der Konsens und überreizt die Sinne. Wer sich in diese Empfindungshöhe begibt, geht das Risiko der Entrüstung ein. Hegel, mit dem Hölderlin in einer Wohngemeinschaft lebte, sprach kein Wort mehr mit dem Dichter, der sich über alle Schranken hinwegsetzte, aber wohl nicht die Nerven für diese Herausforderung besaß. Hölderlin kam mit 36 Jahren in die Psychiatrie nach dem Tod von Susette Gontard. Bei beiden überwog das Leiden die Liebe und zerstörte ihre Gesundheit. Wir können heute Ehen auflösen, wenn sie nicht seelenverwandt sind. Sterben oder erkranken muss daran heute keiner mehr. Die zweite Hälfte seines Lebens verbrachte Hölderlin mit einer psychischen Erkrankung. Das Tragische selbst zu erleben, ist nicht mehr Inspiration, sondern Hemmung der Lebenskräfte.
Es gibt allerdings kein Recht, den genialen Dichter und seine Werke zu pathologisieren. Hölderlin bezahlte einen hohen Preis für seine literarischen und philosophischen Einsichten. Kreativität kann mit einer Überspanntheit einhergehen, die als „verrückt“ kategorisiert wird. Außergewöhnliche Themen verlangen nach einer besonderen Sicht der Dinge, die der Alltagsverstand nicht bieten kann. Sich selber aber in Ausnahmesituationen zu begeben, ist das Risiko. Wie schwierig eine Annäherung an Gott sein kann, thematsiert Thomas von Aquin in Summe der Theologie.
Thomas von Aquino: Summe der Theologie. Stuttgart 1985