Eine rein horizontal organisierte Menschheit ist weder diskursfähig noch zu höheren Einsichten über sich und die Welt in der Lage. Hier bleibt der Mensch des Menschen Wolf und daran kann auch kein Staat etwas ändern.
Thomas Hobbes war der Meinung, dass staatliche Verträge die Menschheit organisieren müssen, weil sonst jeder in den Kampfmodus gegen den anderen verfällt. Andere Philosophen mahnten zu einer Einübung in eine rationale Praxis, die sachlich und kritisch Probleme ansprechen kann, um Verbesserungen und Berichtigungen zu ermöglichen. Aber auch diese Vorstellung ist gescheitert, denn nicht einmal jeder Akademiker hat heute intellektuelle Vermögen. Kritik hat immer eine positive Intentionalität, Aggressionen wollen verletzen und zerstören und Grenzen nicht respektieren, die man anderen gesetzt hat. Die Unfähigkeit, mit Kritik umzugehen, verrät, dass hier ständige Kampfbereitschaft vorhanden ist und ein Fundament im Leben und ein Denkvermögen fehlen, die nichts mit irgendwelchen materiellen Dingen zu tun haben, sondern mit einer Sicherheit im Sein, das wir nur über eine vertikale Orientierung erreichen. Nur über diesen Bogen funktioniert ein Miteinander. Ohne sie bleibt Verständigung unmöglich, weil nur das eigene Ego regiert ohne Einsichten in die Verfassung anderer Menschen. Diese Blindheit verursacht dann nur noch wilde Unterstellungen und Projektionen und mündet in dem Versuch, alles in das eigene Leben unterzuordnen und Menschen wie Angestellte zu behandeln, von denen man möglichst wenig wissen will oder sie eben gar nicht erfasst. Und gerade Menschen, die im Glashaus sitzen, werfen mit den größten Steinen ohne Erkenntnis in die eigene Beschränktheit, die dann nur noch um sich schlägt, weil sie nichts versteht. Geschlossene Systeme sind aggressiv, triebhaft und mit negativen Emotionen duchsetzt. Daran erkennt man ihre Unerlöstheit.
Wahre Orientierung gibt es nur in einem korrigierenden Darüberhinaus
Höhere Denkleistungen sind kein Schicksal oder Zufall, sondern müssen erarbeitet werden durch kontinuierliche Befassung und intensive Auseinandersetzung mit theoretischen Themen. Jeder sollte sich fragen, was er oder sie denn den ganzen Tag über tut, womit er sich beschäftigt, denn das konfiguriert sein Denken und den Geist oder die Abwesenheit von beidem. Geist ist nicht einfach da, sondern ein Produkt unserer Tätigkeiten. Aber das ist nur ein Teil seines Fassungsvermögens. Der andere liegt außerhalb des eigenen Körpers und Gehirns und ist nur erreichbar durch eine Öffnung für etwas, was weit über die eigene Person und das eigene kleine, aufgeblähte Ego hinausweist. Je mehr Körper und Ego, desto weniger Geist. Die Erweiterung ist aber für jeden ohne fremde Hilfe zu haben, indem er begreift, dass es nicht darum geht, das eigene Ego gnadenlos durchzusetzen und andere für sein Wohlergehen zu funktionalisieren. Der universelle Geist kann nur wirksam werden, wenn er gewollt ist. Damit ist immer eine Relativierung und eine Distanzierung vom Ego für die Möglichkeit höherer Einsichten verbunden. Hier begreifen wir die Andersheit, die Verschiedenheit, ohne in Konkurrenz, Neid oder Missgunst zu geraten. Nur hier kann sich auch wirkliches Interesse für den anderen entwickeln als ein von dem eigenen Ego verschiedener Mensch mit anderen Interessen, Fähigkeiten und Intentionalitäten. Von dieser Akzeptanz ist die Menschheit weit entfernt, weil überall der spirituelle Geist der Korrektur fehlt und die Egodimensionierung in die Herrschaft über andere will.
Dem Mensch im Kampfmodus fehlt der Geist
Wir brauchen die Kritik, um zu wachsen und zu klären, denn wir leben hier nicht im Paradies und Menschen neigen zu Angriffen, wenn Systeme oder Paradigmen ins Wanken geraten, anstatt sich aufzuschwingen und sich zu freuen über die neuen Möglichkeiten des Seins. Wer seinen alten Stiefel aus Sicherheitsgründen will, der wird nicht mitgehen. Sogenanntes Bestandswissen einfach loszulassen und für das bereit zu sein, was größer ist als man selbst, ist eines der wichtigsten Vermögen dieser Zeit. Und wahrhaftiges udn echtes Selbstbewusstsein kann immer mit Kritik umgehen, weil es sich verankert weiß – nicht auf dieser Erde, denn die ist unberechenbar, sondern im spirituellen Geist, einer Ressource, die denen offen steht, die von sich selbst abstrahieren können. Und es geht nicht um Selbstaufgabe, sondern um eine Transformation des Selbsts, das für höhere Einsichten zugänglich ist. Wer also auf Kritik mit Aggressionen reagiert, der hat nicht mehr als sein kleines Ego, das schreit und tobt und wütet. Er mobilisiert ständig die Waffen. Hier ist kein Gott anwesend, hier will kein Gott hin. Letztlich ist jeder für seine Beschränktheit selbst verantwortlich, denn Gott macht uns permanent ein Angebot – nicht unbedingt in der Kirche, sondern subtil und zart und zu jeder Zeit für ein höheres Bewusstsein und supramentales Wissen. Wer stampft, trampelt und dampfwalzt, der kann ihn nicht hören. Es ist ein Gott der leisen nonverbalen Töne. Das ist eine Sphäre, die der im ständigen Kampfmodus Befindliche nicht hören kann. Er wittert nur Angriffe, wo keine sind, wo die Absicht der Klärung schon als Affront verstanden wird. Wirkliche Diskursfähigkeit hat nur der, der in sich und zugleich in Gott ruht, an sich arbeitet sowie den Geist möglichst täglich mobilisiert und sich auch einmal zurücknehmen kann. Er kann sachlich und gelassen bleiben, anstatt ständig mit Pfeilen zu schießen. Diese Kriegsbereitschaft kann nicht unterscheiden zwischen Kritik und Aggression, weil er generell die Ebene des Kampfes nicht mehr verlassen kann und so höheres Denkvermögen für sich unmöglich macht.
Der fluide Geist
Manchmal hat man auch den Eindruck, es geht sogar auch noch unter die horizontale Ebene nämlich in den Abgrund äußerst negativer Emotionen. Und gerade Menschen, die so viel von ihren Emotionen halten, bieten oft das ganze schreckliche Spektrum, weil keine vertikale Orientierung vorhanden ist und keine Rationalität Einhalt bietet, die uns immer auch beschwichtigen und erkennen lässen, was wichtig ist und was nicht wichtig ist. Wem ein anderer Mensch wichtig ist, der sucht die Verständigung, die immer auch ein genaues Zuhören ist. Aber Fassadenmenschen sind nur daran interessiert, möglichst viel von sich zu reden und nicht in die Tiefe zu gehen und die Ursachen von Problemen nicht zu erarbeiten. Er lebt auch in der Blendung. Wer kein Reflektionsvermögen in Bezug auf die eigene Person hat, dem bleibt der andere immer fremd und er wehrt ihn ab als Bedrohung seines eigenen Selbstverständnisses. Auch fehlende Abstraktionsfähigkeit ist ein Übel, das man als Außenstehender nicht korrigieren kann. Ob Einsicht stattfindet oder nicht, ist ein Akt der Gnade. Also wenden wir uns denen zu, die wachsen wollen und mit Kritik umgehen können, weil sie wahres Selbstbewusstsein entwickelt haben. Wer von sich glaubt, er sei perfekt, ist ein Dummkopf, lassen wir ihn ziehen. Gerade wenn Menschen sehr unterschiedlich sind, bedarf es der hohen Kunst der Verständigung. Das setzt viel innere geistige Beweglichkeit voraus. Ein fluider Geist wird nicht dogmatisch, sondern will Bewegung, Kreativität und Einfallsreichtum. Ein stumpfer Geist will Rechthaberei und Dominanz. Auch hier ist für einen universellen Geist kein Platz, der korrigierend und erleuchtend einfließen könnte. Supramentales Wissen ist kein angelerntes Wissen. Leider ist auch oft das akademische Wissen und Ringen eine Evolutionsbremse. Aber das Denken sollte niemals irrational werden. Rationalität ist erweiterbar.
Keiner sollte auf Angebote reagieren, die für die Vermittlung spiritueller Erfahrungen viel Geld verlangen. Diese Pervertierung der Spiritualität ist leider die Kehrseite einer Bewegung, die wieder nur profitieren will. Jeder kann seine spirituellen Erfahrungen selber machen – Tag für Tag und einfach so und sich mit Menschen verbinden, die hierfür aufgeschlossen sind.
Und wer sehr viel liest, kommt Gott schon ein wenig näher, denn er versteht andere Lebens- und Denkweisen, sein Geist ist in Bewegung
Irene Vallejo: Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern. München 2022