Die Suche nach der Identität

Die Frage nach der Identität ist eine, die im Zuge der Individualisierung in den Vordergrund unseres Daseins getreten ist. Sie ist eine Kategorie des Seins und der Reflektion sowie der Arbeit.  Der promovierte Diplompsychologe Hermann Rühle nähert sich in seinem Buch ‚Was bin ich? Wie bin ich? Wozu bin ich?‘ dem schwierigen Thema an, indem er zunächst die misslungenen Formen der Identität aufdeckt, um dann zu den Bedingungen der Entwicklung einer wahren Identität  vorzudringen.

Grundsätzlich ist der Autor ein Zweifelnder und behält sich vor, dass sein Geltungsbedürfnis nicht seinen Fähigkeiten entsprechen könnte. Aber der Mensch und seine Ressourcen wachsen an den Herausforderungen. Nichts ist statisch. Und wir brauchen beides: kritisches Vermögen und Selbstvertrauen. Die Fehlformen der Identität dienen der Abgrenzung gegenüber unseren normalen und gesunden Seinsweisen, die wir uns im Laufe des Lebens in Auseinandersetzung mit anderen so erarbeiten. Wir erkennen bestenfalls, was wir nicht sind, aber wir haben auch Schwierigkeiten zu erfahren, wer wir in Wahrheit sind, so dass wir bei uns selbst sein können. Der Narzisst, der Hochstapler und der Größenwahnsinnige haben als Identitätsgestörte den Bezugsrahmen verloren oder nie gehabt und leben hinter der Fassade des Scheins mit einer „inneren Hohlheit“, so Rühle, die anderen auf die Nerven geht. Sie alle sind sich ihres Soseins im Grunde unsicher und kompensieren diese Unsicherheit damit, dass sie sich mit Menschen umgeben, die nicht hinter ihre Fassade schauen, denn hier lauert die Bedrohung ihrer Existenz. Der Narzisst umgibt sich nur mit Menschen, die vermeintlich sein Prestige vermehren und tritt nach denjenigen, die ihn kritisieren und infrage stellen. Seine Arroganz und Überheblichkeit mündet nicht selten im  Machtmissbrauch und Herabsetzung anderer in heilloser Selbstüberschätzung, die für andere unerträglich ist. Er reagiert nicht auf Kritik, da sein schwaches unterbewusstes Selbstwertgefühl dem bewussten nicht entspricht. Diese Spezies ist mit sich selbst nicht im Reinen und lässt daher andere leiden. Unser Zusammenleben wird durch diese Fehlentwicklungen schwer gestört und beschädigt.

Die Phasen der Identität

Der Autor will den Leser auf den Weg der Selbsterkundung bringen, um zu einer gesunden und tragfähigen Identität zu kommen, die ja nichts Festgelegtes ist und an der man arbeiten kann, indem man sich Ziele setzt und diese auch verwirklicht. Die meisten Menschen beschränken dieses Wirken auf ihren Beruf, aber auch die bewusste Reflektion kann Klarheit darüber schaffen, wodurch man den Sinn seines Lebens findet. Identität ist nicht nur Status und Ansehen, sondern es sind die inneren Werte, die wir dann nach außen hin leben. Gegen alle Formen der Selbstüberschätzung, die Probleme verursachen, rät Hermann Rühle zur Abklärung Gespräche mit anderen. Ein gesundes Selbstbewusstsein erträgt Kritik, um auch die eigene Reifung und Entwicklung zu befördern. Zu viel Selbstkritik schadet allerdings dem Selbstwertgefühl. Der Autor stützt sich unterhaltsam und informativ auch auf die Phasen der Identität nach Erik H. Erikson, die sich im Laufe des Lebens verändern. Identität wird von vielen Menschen sehr unterschiedlich beurteilt und ist vor allem durch den Wandel gekennzeichnet. Sie ist im Fluss, wie sie der Dalai Lama beschreibt. Oft muss sie auch korrigiert werden, wenn sie auf den Holzweg führt. Ich bin das, was ich aus mir mache und was ich denke. Reine Anpassung führt nicht zu einer gelungenen Identität, denn sie muss auch intrinsisch motiviert sein. Identität ist eine Wahrheitssuche unter sich ständig verändernden Bedingungen.

Der Weg der Selbsterkenntnis

Hermann Rühle stellt deshalb eine Reihe von Fragen an den Leser, der sie schriftlich im Buch vorerst beantworten sollte, um dann im Ausweiten der jeweilig eigenen Autorenschaft weitere Selbsterkenntnisse zu gewinnen. Die schriftliche Ausarbeitung ist Bewusstseinsarbeit. Sein Buch ist eine Einführung und Anleitung für den Prozess der Selbsterfahrung, die nie abgeschlossen ist. Und in einer Zeit der hohen Herausforderungen müssen wir wissen, wer wir sind, was wir sein wollen und was die eigene Berufung sein könnte. Die Zeiten der Fremdbestimmung sind eigentlich vorbei. Jeder sollte sich auf das Abenteuer der Selbsterkundung begeben, um zu einem sinnhafteren und erfüllteren Leben zu kommen, das psychisch und körperlich gesund erhält. Dafür muss ich meine Fähigkeiten genau kennen, um nicht an mir selbst vorbeizuleben und andere zu täuschen. Eigentlich kann ich mich nur mit anderen gut verständigen, wenn ich selbst authentisch und wahrhaftig bin. Ansonsten erreichen Gespräche keine Tiefe, da ich nicht mit mir selbst in gutem Kontakt stehe. Wie sollen dann andere den Kontakt herstellen können? Jeder sollte sich der Gestaltungsmacht bewusst werden, die der zu sich selbst Gekommene so einsetzen kann, dass sowohl sein Umfeld als auch er selbst davon profitiert. Rühle stützt sich auf die fünf Säulen der Identität nach Hilarion G. Petzold: Körper, soziales Netzwerk, Arbeit und Leistung, materielle Sicherheit sowie Werte und Sinn. An diesen Säulen können wir arbeiten, uns definieren und uns stabilisieren. Rühle warnt: Ruhm und Erfolg heilen nicht, wir müssen die Selbstarbeit betreiben, um uns mit uns selbst zu versöhnen. Dafür ist das Buch von Hermann Rühle eine sehr gute interaktive Einführung  in das Thema Selbstreflektion, durch die wir wachsen, wenn sie mit einem gesunden Selbstwertgefühl einhergeht.  Auch um Identitätskrisen vorzubeugen,  empfiehlt sich diese hilfreiche Lektüre bestens.

Hermann Rühle: Was bin ich? Wie bin ich? Wozu bin ich?. Wie ich erkenne, wer ich wirklich bin. Dielus Edition Leipzig. 2018

ISBN: 978-3-9819383-4-0

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