Die Kritik an der Institutionalisierung von Männlichkeit hat noch keine Tradition, da das Bewusstsein für feministische Orientierungen besonders auch in den Wissenschaften noch nicht deutlich genug ist. Sandra Harding betont, man sei keine Männerhasserin, wenn man diese androzentischen Denkmuster kritisiert und entlarvt. Androzentrische Theorien wissenschaftlicher Erkenntnis müssen stärker bezüglich ihres Nutzens für die Gesellschaft und die Politik hinterfragt werden. Ein feministischer Blick auf die Dinge kann aus den Sackgassen herausführen, in die wir alle hineinmanövriert wurden. Es geht angesichts der Probleme nicht mehr in erster Linie um ein Mitmachen, sondern um ein Andersmachenkönnen. Diese Fähigkeit muss kultiviert und gefördert werden.
Im Fokus des Interesses sollte die Gesundheit stehen. Wie wir denken und handeln, hat einen großen Einfluss auf unser Wohlbefinden. Die hohen Erkrankungszahlen zeigen, dass Verhältnisse etabliert wurden, die die Gesundheit angreifen. Unser jetziges System zwingt viele Menschen zu ungesunden Verhaltensweisen. Vorsorge und Fürsorge sind elementare Haltungen, die in allen Bereichen eine Rolle spielen sollten, denn sie führen zu Kooperation und mildern die männlichen Konkurrenzparadigmen, die vor allem der Hierarchisierung einer Gesellschaft dienen. Die aber macht keinen Sinn. Wir sehen zunehmend den Einfluss der Bürger auf Meinungsbildungs- und Wissensprozesse. Die Generierung von Wissen ist nicht länger allein die Aufgabe von Institutionen, deren Partikularinteressen oft die Bedürfnisse von Menschen ignorieren. Was als wissenschaftlich, objektiv und rational angesehen wird, bestimmen auch immer noch Männer. Ob diese oft männlichen Definitionen auch zielführend sind im Sinne einer gelingenden Verständigung über die Verbesserungen unserer sozialen, gesundheitlichen und ökologischen Lagen, muss hier dringend in Frage gestellt werden. Unsere Gesundheit hängt von einer gesunden Umwelt ab und auch das gesunde Alter ist eine Frage der Prävention.
Kann ein feministischer Blick diese Perspektive eröffnen, diese Welt wieder humaner und gesünder zu machen? Überall setzen sich gewalttätig männliche Prinzipien und Paradigmen durch, infiltriert von männlichen Ideologien und Theorien, die ganz offensichtlich keine Heilung ermöglichen und einen Rationalitätsstandard vertreten, den man eigentlich nur als einseitig, simplifizierend und damit als unzutreffend bezeichnen kann. Der Verabsolutierung eines männlichen Leistungsstrebens, das ja vielfältige Konsequenzen hat, sind selbst Frauen auf den Leim gegangen. Die Mechanisierung des eigenen Lebens ist ein Verrat an den tieferen Reflexionen, für die Frauen einen wichtigen Beitrag leisten können. Einem gesunden Gedeihen in der Natur entspricht die volle Entfaltung, die zu einem verantwortlicheren Menschsein befähigt. Wir wissen, dass unsere Art zu leben, in die wir alle hineinzwängen, nicht globalisierbar ist. Hier spätestens sollten wir hellhörig werden und nach neuen Konzepten suchen für ein qualitatives Wachstum, von dem alle profitieren könnten, wenn wir auch die Vielfalt der Lebenswege anerkennen. Der individuelle und verantwortungsvolle Beitrag ist höher zu bewerten als die Anpassung an ein System zunehmender Unterdrückung, Ausbeutung und Schädigung der Gesundheit sowie der Umwelt.
Der heutige Feminismus muss sensibilisieren für die vielen Absurditäten heutigen Daseins. Man kann erst sagen, dass es den Menschen gut geht, wenn sie ein Leben führen können, das nicht unweigerlich in die Krankheit führt, weil vermeintliche Zwänge dies so mitsichbringen. Es ist klar, dass sich der Mensch gegen dieses Bombardement von Giftstoffen materialer und ideeller Art auf Dauer nicht immunisieren kann. Irgendwie sind wir dabei, uns selbst abzuschaffen und begreifen die Anzeichen verschiedenster Fehlentwicklungen nicht. Krankheit im Alter ist kein Schicksal. Wer die Aufmerksamkeit hat, auf die Signale seines Körpers zu achten, der kann schwere Erkrankungen verhindern. Eine Politik, die individuelle Vorsorge sanktioniert, orientiert sich eindeutig an falschen Maßstäben. Der Verlust der Gesundheit ist eine persönliche Katastrophe und ein volkswirtschaftlicher Schaden. Es ist offensichtlich, dass die feministische Perspektive die ganzheitlichere ist und deswegen den (Selbst-) Heilungsprozess befördern kann.
Auch der Rentendruck hat zu einer falsch verstandenen Emanzipation geführt. Frauen sollten in all ihren Entscheidungen ernst genommen und nicht in ein männliches Korsett gezwängt werden. Dies muss auch auf jeden Fall sozial abgesichert sein. Und hier wären wir wieder bei einem bedingungslosen Grundeinkommen, das jeden individuellen Lebensentwurf der bewussten Teilhabe und vor allem die intrinsischen Motivationen ermöglicht, die nicht alle zertifiziert und benotet werden müssen. Die Digitalisierung kann auch einen Freiraum schaffen für mehr Kreativität und Produktivität. Hier sind Frauen besonders gefragt, herauszustellen, wie ein menschlicheres Miteinander aussehen könnte jenseits enger Grenzen von Angestelltendasein und Familie. Veränderungen sollten auch nicht weh tun oder Menschen schädigen. Das Wohl aller im Auge zu behalten bedeutet eben auch, keine Opfer zu generieren. Auch das ist ein verachtenswertes männliches Paradigma, dem wir als Frauen entschieden widersprechen müssen. Frauen sollten sich für die Möglichkeit lebenslanger Entwicklung bei Achtung individueller Fähigkeiten einsetzen. Gesundheit bedeutet auch, den eigenen produktiven Weg zu finden, um gesellschaftlich wirksam zu werden. Dies kann nur in einem ökologischen Wirtschaften geschehen. Und: „Männer verkörpern nicht das ideale Menschenbild“ stellt nicht nur Maria Mies fest.
Frauen müssen sich 23 Jahre nach dem Erscheinen von Hardings Buch fragen, was sie für die Transformation der Inhalte von Wissenschaften beigetragen haben. Zu vielen Frauen ging es darum, in einer Männerwelt und in einem Männerdenken zu bestehen. In den Wissenschaften bedeutet diese Haltung eine Blockade des Erkenntnisfortschritts. Dass Männer vor allem immer wieder Männer zitieren und die soziale Definition damit extrem prägen, darf nicht länger hingenommen werden. Der wissenschaftliche Diskurs ist immer noch ein eindeutig patriarchaler. Dies hat Auswirkungen auf eine Politik, die über Etablierung von Konkurrenzsystemen an Ungleichheit interessiert ist. Wenn ich als Frau den Wissenschaftsbetrieb nicht verändern kann und nicht die gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge begreife, ist das auch immer als Verrat an der Sache zu bewerten. Es geht nicht darum, dieselben wissenschaftlichen Karrieren wie Männer zu machen mit denselben Inhalten. Wir sehen, dass solches Denken nicht zu mehr Gesundheit, Wohlergehen und Glück geführt hat. Wer sich ausruhen will auf denkerischer Tradition, hat den feministischen Auftrag nicht verstanden. Dass Männer in Frauen aus eher narzisstischen Gründen ein Pendant suchen, sollten Frauen durchschauen. Das ist nicht die Basis für Fortschritt und Entwicklung.
Westliche wissenschaftliche Rationalität ist in erster Linie männlich, orientiert auch am Positivismus. Wissenschaft lässt sich aber keinesfalls auf formale oder naturwissenschaftliche Aussagen beschränken. Feministische Kritik am Ethnozentrismus des Westens ist eine Kritik an einem in vielerlei Hinsichten beschränkten Denken. Konventionalistisch zu denken ist aber immer noch die Eintrittskarte in die wissenschaftliche Welt. Diese Selbstgefälligkeit hat soziale Folgen, denen sich auch die Wissenschaft heute stellen muss. Es muss für Soziologen und Philosophen immer darum gehen, vermeintliches Wissen kritisch zu hinterfragen. Skeptizismus ist auch in Bezug auf die Medien angesagt. Und es gibt keinen Grund, einem Mann zu vertrauen, der den gesunden Menschenverstand für sich gepachtet haben will. Frauen sind definitiv in einer anderen Lage als Männer und wir haben es nicht geschafft, sie auch entsprechend zu würdigen, für welche Lebensform sie sich auch entscheiden. Die Entwertung der Frau ist nicht beendet und sie wird von Männern betrieben, die nicht in der Lage sind, ihre eigenen Paradigmen zu hinterfragen. Deshalb werden wir auch noch lange statussymbolträchtige und umweltvernichtende Autos auf den Straßen sehen. Potenzial- und Regenerationsvernichtung auf vielen Ebenen statt Offenheit für neues Denken. Und: Wer potenziell Leben gibt, der hat auch einen besseren Bezug zu lebendiger und gesunder Vielfalt. Wie alle unsere Fähigkeiten muss auch diese kultiviert werden, damit diese Welt besser beleuchtet wird.
Sandra Harding: Das Geschlecht des Wissens. Frauen denken die Wissenschaft neu. New York 1994
Maria Mies/Vandana Shiva: Ökofeminismus. Neu Ulm 2016