Wir stecken schon lange in der Krise, was die Behandlung von mentalen Erkrankungen betrifft. Ein Grund liegt darin, dass wir defizitäre Theorien nicht aufgeben wollen, die den Menschen betreffen. Ludwig Binswanger hat zurecht darauf hingewiesen, dass sowohl Freud als Heidegger defizitäre pathologische Paradigmen zu Anthropologien entwickelt haben, aus der sie Existenzialien ableiteten. Der Mensch ist aber nicht in erster Linie ein unbewusstes Triebwesen noch ist er in diese Welt geworfen. Solche Zuschreibungen vermitteln ein verfehltes Dasein und taugen nicht für eine affirmative ontische und ontologische Beschreibung menschlicher Befindlichkeiten. Binswanger postulierte deswegen seine Daseinsanalyse, die sich ja am gelungenen Leben orientieren muss und nicht am verfehlten. Heidegger schwebt mit seiner Behauptung in der Gefahr, faschistoid zu werden, indem er Sinnentleerung zum Existenzial stilisiert. Und das Fundament ( „Unterbau“) unseres Lebens ist nicht der Trieb, wovon Freud eben noch überzeugt war. Wir wollen alles darauf zurückführen und determinieren den Menschen auf eine völlig untergeordnete Partial-„Leistung“, die unser Menschsein kaum erfasst.
Eine positive Anthroplogie definiert den Menschen dahingehend, dass sie beschreibt, wozu der Mensch fähig ist, welche Macht er über sich selbst besitzt gegen die Behauptung, er sei nicht Herr im eigenen Haus. Sein vorherrschendes affirmatives Existenzial ist sein Seinkönnen im Sinne einer Teleologie des Daseins. Wir sind entworfen auf die Verwirklichung unseres ganzen Menschseins hin, aber nicht geworfen. Wir wollen die vielen realen Abweichungen von dieser These nicht unter den Tisch fallen lassen, aber auch darauf aufmerksam machen, dass viele falsche Theorien über den Menschen, viele schlechte Verhaltensweisen von Menschen mitbewirken. Wenn ich behaupte, der Mensch sei in seinem Innersten triebhaft und aggressiv, wird er nicht viel dafür tun, diese defizitären Lagen zu überwinden, sie sogar als conditio humana verstehen. Auch die These, das menschliche Leben sei zum größten Teil von unbewussten Motiven geprägt, ist meines Erachtens nicht richtig. Jeder, der Bewusstseinsarbeit betreibt, weiß, dass er Zugang zu seinem Inneren hat. Und je mehr er hierin fortschreitet, um so besser geht es ihm. Wir können auch nicht wirklich Gott erfahren, wenn wir nicht bei uns selbst ankommen. Triebe und damit verbundene negative Emotionen sind allerdings ein Gegenspieler bewusster Erfahrung von Welt und ihrer Zusammenhänge. Das Zurückgeworfensein auf sein defizitäres Selbst verhindert Objektivität und beschränkt das intellektuelle Fassungsvermögen. Sexualität ist meines Erachtens auch ein Gegenspieler des Präfrontalcortex, der für Bewusstseinsprozesse zuständig ist. Wer diesen Teil des Gehirns stärken will, sollte deshalb asketisch leben – zumindest für die Zeit der Heilung von mentalen Krankheiten, für die man tiefe Einsichten braucht. Der Präfrontalcortex ist der Ort der Entwicklung gegen Funktionen der Reproduktion und der reinen Anpassung, die nicht so sehr einem gesunden Gehirn entspricht, wie wir das heute allgemein im Darwinschen Sinne propagieren. Wir halten diese Anpassung für Gesundheit. Aber meines Erachtens will sich das Gehirn lebenslang entwickeln, womit Veränderung zum Daseinsprinzip wird. Psychoneuroimmunologisch gesehen sind Selbsterkenntnis und Bewusstsein der beste Schutz gegen Angriffe von außen.
Eine Gesellschaft wie die deutsche ist alles andere als gesund, was auch die Gründung einer neuen Partei, die sich „Gesundheitsforschung“ nennt, bezeugt. Wir sind dabei, unsere Standards anderen Ländern wie Griechenland aufzudrücken, ohne uns zu fragen, was dieser hohe Krankenstand bedeutet. Sicher kommt hier ein Leiden am Leben zum Ausdruck. Die Repressionspolitik, die sich auf menschenfeindliche Paradigmen stützt, hat heute viele Gesichter. Es wird nicht mehr gefördert und unterstützt im Sinne einer Stabilisierung intrinsischer Motivationen, sondern es wird ausgesondert und ausgeschlossen. Alles, was sich nicht einordnet, wird sabotiert. Und wieder besonders primitiv und atavistisch: Männer schädigen Frauen. Es läuft so vieles schief und viele sehen, dass dem so ist. Menschen wollen sich auch in ihren Berufen entwickeln können, damit sie lange gesund bleiben. Wenn wir begriffen haben, dass unser bewusstes Gehirn den Ton angibt, müssen wir Existenzialien anders deuten. Ein unpassendes In-der-Welt-Sein kann zu Störungen vielerlei Art führen. Es sind nicht die Gene, die zu mentalen Krankheiten führen, sondern die falschen ontischen Bedingungen und ontologischen Zuschreibungen und natürlich die Verletzungen durch andere. Wir leben nicht in einem offenen Entwicklungssystem in Anerkennung unseres Gehirns, sondern in einer Zeit der Vernachlässigung desselben. Menschen haben enorme Selbstheilungskräfte durch dieses so konzipierte Gehirn. Wir müssen aber auch die Voraussetzungen schaffen, sie auch nutzen zu können. Und der Mensch als einzelner kann sich entscheiden, ob er lieber dem Präfrontalcortex folgt oder eben seinen Trieben. Beides zugleich ist wohl nicht gut vereinbar. Wir bleiben seltsam stecken und hier bleibt dann auch nur die Anpassung. Und Entwicklungsstau führt dann wieder zu Trieben – ein archaischer Kreislauf. Wo das Leben im Gegenteil im Fluss ist, gibt es keinen Trieb. Die Möglichkeiten der Evolution im Denken und der Selbstheilung existieren aber bereits in uns, wir haben es nur nicht gelernt, sie zu aktivieren.
Mit dem Präfrontalcortex verbunden ist auch die Individualisierung, die weder Egoismus noch Vereinzelung bedeutet, sondern Entfaltung der Genexpression und damit der Einzigartigkeit von Menschen, die mit ihren besonderen Fähigkeiten eine Gesellschaft befördern. Unser gesamtes Ausbildungssystem benotet und bewertet nur die Anpassung an die Verhältnisse. Kreativität und Produktivität werden oft sogar unterbunden. Wer schon in der Schulzeit andere Bücher liest als die vorgeschriebenen, beweist Eigenwilligkeit und sollte deswegen auch seine intrinsische Begabung erhalten können, denn er hat nicht die Absicht, Sachbearbeiter zu werden. Eigeninitiative wird zu oft sanktioniert und damit unterminiert. Wir sind kein Land der Kreativen und auch kein Land des guten Lebens. Wir sollten uns Gedanken machen, warum wir gerade hier in Deutschland unsere Seelen immer wieder schinden und uns zum Maßstab der Dinge machen. Eine Rentner- und Konzernpartei ist hier sicher nicht die Rettung.
Husserls phänomenologische Methode, die zu den Sachen selbst führt und diese beschreibt, muss auf den Menschen angewendet werden vor allem in Bezug auf Therapien, wenn man nicht in der Lage ist, die Bewusstseinsarbeit in die eigenen Hände zu nehmen. Im individuellen Leiden wurde man ein Opfer des Lebens, das andere uns vorschreiben, die sich wiederum keine Gedanken gemacht haben, was wirklich zählt. Innehalten sollte man nicht nur im Kloster. Jeder kann sich die Frage stellen, was für ihn in diesem Leben Bedeutung hat und was nicht. Er hat aber nicht das Recht, seine Einschränkungen anderen aufzubürden. Gesellschaft ist Vielfalt und nicht Einfalt. Und uns fällt auch nur viel Gutes ein, wenn wir den Raum dafür schaffen und zu Entdeckern werden anstatt zu Konsumenten, die zu viel essen und sich manipulieren lassen. Leider lebt davon unsere Wirtschaft, die das Korrektiv der Spiritualität ersetzt.
Ludwig Binswanger: Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins. Zürich 1942
Michel Onfray: Anti Freud. Die Psychoanalyse wird entzaubert. München 2011
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