Es handelt sich bei dem Begriff der integralen Psychologie um einen interdisziplinären, der für das Verständnis und die Heilung von mentalen Erkrankungen maßgeblich ist
Ken Wilber versucht in seinem Buch Integrale Psychologie die Kombination aus Philosophie, Psychologie und Theologie. Hinzukommen sollte meiner Meinung nach auch immer die Soziologie, die gesellschaftliche Phänomene thematisiert. Diese Verbindung verschiedener Wissenschaften ermöglicht eine weitere Differenzierung gegen mystische Vereinfachungen eines nicht näher erläuterten Wir, das Wilber zwar beschwört, aber das so nicht durchzuhalten ist. Wenn von Verbundenheit die Rede ist, dann ist damit die Verbindung zu Gott gemeint und damit auch zu einer Mahnung der Entwicklung zu mehr Vollkommenheit und tieferen Wissens. Emergente Zustände sind keine momentanen Gipfelerfahrungen, wie sie Wilber identifiziert, sondern es sind Zustände höheren Wissens, die mit dem naiven Hedonismus nicht vereinbar sind. Auf dieser Stufe des Daseins werden wir nicht erleuchtet und durchdrungen von Erkenntnissen über uns selbst und über andere. Die Welt erschließt sich auch nicht über den horizontalen Eros. Weder reine Meditation noch Sexualität führen zu Heilungsprozessen, da hier die Vertikalität nicht erreicht wird. Der supramentale wissende Geist, der nicht mit dem freudianischen Über- Ich korreliert, kennt keinen Trieb, der ein Abstiegsphänomen ist. Als Menschen sind wir nur dann verbunden, wenn Identifizierung möglich ist. Ein diffuses Wir ist kein reales und intentionales, denn es wäre totalitär. Das Wir einer Kultur ist immer auch Produkt einer differenzialen Ethik. Vielfalt muss toleriert werden, aber Akzeptanz ist damit nicht verbunden. Und mit einer heterogenen Vielfalt können wir uns nicht identifizieren. Uns sind hier also Grenzen gesetzt. So bleibt eben nur die demokratische Auseinandersetzung, die durch nichts Mystisches ersetzt werden darf. Die Stufen des Bewusstseins entscheiden über das Leben (auch Arbeit) , das man dann führt.
Der Anstoß innerer Entwicklungen
Die integrale Psychologie der spirituellen Vertikalität erlaubt eine Neudefinition dessen, was mentale Krankheit und Gesundheit bedeuten. Durch die Vertikalitiät verlieren wir nicht an Realität, sondern wir gewinnen sie erst durch den höheren Blick von oben, den wir einnehmen können in Bezug auf die Selbsterkenntnis und in Bezug auf die Zusammenhänge unseres Daseins allgemein. Die meisten mentalen Krankheiten können nicht geheilt werden, weil deren Behandlung in einer horizontalen Pragmatik steckengeblieben ist und den materiellen Reduktionismus anstelle eines Geistparadigmas präferiert. Emergenzen sind nicht nur Ausdruck von Komplexität, sondern einer Gottgeistigkeit, die durchschaut und erschaut, was zur Verbesserung unseres Lebens beitragen kann. Sicher muss neues Wissen geprüft werden und begründet sein. Es ist hier nichts einfach zu behaupten. Es ist aber deutlich, dass es Selbstheilungskräfte gibt und dass sie für jedermann zugänglich gemacht werden sollten und könnten, wenn die Voraussetzungen erklärbar werden. Für die Selbstheilungskräfte müssen wir in die Emergenz und in emergente Entwicklungen, die sich mit dem Höchsten verbinden für die objektive Schau der Dinge. Raum und Zeit spielen hier keine Rolle. Wir treten also auch aus den Gefängnissen unserer Sinne heraus und kommen in das Reich des Denkens, des Geistes, des göttlichen Geistes als Möglichkeit vertikaler Verbundenheit, die wir als Erleuchtung bezeichnen. Es ist kein Zufallsprodukt, sondern Ausdruck intrinsischer Motivation, die aus der subjektiven Isolation befreit. Über diesen Weg kann man zu anderen finden für die eigene Identifikation, die der Mensch braucht, um sich wohlzufühlen und wachsen zu können. Die Systemtheorie besagt, dass dies eben nicht unter allen Umständen möglich ist oder sehr erschwert werden kann. Der zunächst immaterielle Aufstieg in die emergenten Sphären kann behindert und gestört werden, wenn er sich selbst nicht bewusst genug gemacht wurde. Bewusstheit ist ein Schutz gegen allerlei Angriffe auf den Tempel. Wie wir den Prozess der Emergenzentwicklung für die Selbstheilungskräfte von außen anstoßen können, muss noch erarbeitet werden. Der Aufbau eines emergenten Geistes für Gesundheit und Kompetenz ist aber kein Geheimnis mehr. Der emergente und entwickelte Geist nimmt Einfluss auf die körperliche Ebene der Epigenetik und steuert so den Organismus. Die innere Entwicklung ist höchst individuell, um beim überindividuellen Gottgeist ankommen zu können. Das komplexe Eigene ist Voraussetzung für die Möglichkeit von Emergenz, die aber das korrigierende und relativierende Überindividuelle thematisiert im Gott- und Weltgeist.
Keine Spiritualität ohne Säkularität
Nur eine interdisziplinäre Sichtweise kann Aufschluss über die Möglichkeit des Heilungsprozess geben durch Differenzialismus und nicht durch Mystizismus, der immer eine sehr subjektive und persönliche Erfahrung bleibt ohne Konsequenzen für das reale Leben, dem wir entsprechen müssen, wenn der Mensch bestehen will als politisches und soziokulturelles Mitglied einer konkreten Gesellschaft. Säkularität, also dem Wirken in der Welt, wird mit Spiritualität verbunden – das Eine ist ohne das Andere blind und kann degenerieren. Gegen alle Formen der Regression schützt uns die vertikale Verbindung, die gleichzeitig aus den inneren Gefängnissen befreit – seien sie selbst- oder fremdverschuldet. Die geistigen Energien, die hier zufließen, können die Störungen und Krankheiten beheben, die auf rein körperlicher Ebene nicht heilbar sind. Es geht nicht um Körperfeindlichkeit, sondern um Transzendenz und Transformation, die in Verbindung mit dem höchsten Geist möglich wird, aber das Fundament nicht wegreißt. Auf den Körper ist immer zu achten in bewusster Ernährung und Bewegung. In der vertikalen Verbundenheit entwickeln sich auch Intuition für das Eigene und das Andere als Einsicht, die immer auch analysiert werden muss. Ganzheitlichkeit bezieht sich auf das Individuum, das die wesentliche Aspekte des Daseins integrieren muss, um zu einer stabilen Gesundheit zu gelangen. Diese Selbstverantwortlichkeit auch für die eigene Gesundheit muss mit einer differenzierten und personalisierten Medizin gestützt werden. Gesundheit bedeutet auch immer reale Verankerung in dieser Welt, die nicht aufgegeben werden darf, damit wir handlungs- und organisationsfähig bleiben. Es bleibt also auch immer eine Intentionalität zum Du, die aber ohne die teleologische Vertikalität unvollständig bleibt und damit nicht erfüllend ist. Die vielen Aspekte ganzheitlicher Gesundheit müssen im Einzelnen thematisiert werden gegen falsche Propaganda und falsche Prämissen. Mentale Gesundheit beinhaltet immer auch ein gutes Realitätsvermögen für die Bildung einer Urteilsfähigkeit, die auch die eigenen Kompetenzen erweitert. Überhaupt bietet die vertikale Emergenz eine Befreiung der eigenen Fähigkeiten. Reine Komplexisierung ohne vertikale Führung kann zu Dissoziation führen. Die Bildung eines supramentalen Geistes scheint die Voraussetzung für die Selbstheilungskräfte zu sein, da hier die gestörten mentalen Zustände überwunden werden können in ihrer Virulenz. Der Mensch besitzt diese Fähigkeit zur Selbstheilung durch Emergenz und kann sie sich erarbeiten, wenn sie ihm entfallen ist oder entzogen wurde. Die Evolution des supramentalen Geistes ist dann erreicht, wenn es keine Rückfälle in untergeordnete Zustände mehr gibt, also die materiale Entsprechung als Folge im Gehirn gebahnt bleibt unter den gewählten, möglichst optimalen Umständen auch in Beziehungen.
Das kulturelle Wir
Auch das kulturell Ganzheitliche bedarf der individuellen emergenten Entwicklungen und Einsichten auch in die Belange von Natur und Welt. Das Menschenmögliche im Auge zu haben, heißt, die Chance auf einen Bewusstseinswandel zu erhöhen für den Erhalt der Lebensgrundlagen. Das kulturelle Wir steht also vorerst in der Verantwortung für das Ganze und in der Pflicht der Selbstverantwortung für die eigene Gesundheit, damit ein kultureller Organismus wächst, der immer bewusster mit sich und mit anderen umgeht im Appell an die eigene Möglichkeit zur Emergenz. Das bedeutet Duldung, aber nicht Befürwortung, wenn die Eigenverantwortlichkeit nicht berücksichtigt wird. Sie darf auch durch keine Gewalt und keine Zwänge beeinträchtigt werden, da sonst Emergenz ausfällt. Alles muss dafür getan werden, dass diese höheren Funktionen unseres Geistes und auch des Gehirns geschützt werden, damit der Mensch gesund und leistungsfähig bleibt. Die Verantwortung liegt hier bei der Politik, die Voraussetzungen für Emergenzen zu schaffen, die die Menschheit vor schweren Erkrankungen schützen kann auch durch Einsichten in das Funktionieren des eigenen Organismus. Auch kann die Supramentalität (auch Freiheit von Affekten) durch unpassende Systeme und Beziehungen (keine Resonanz) schwer beeinträchtigt werden. Emergenzen können auch durch Zufälle erzeugt werden, die aber nicht verwissenschaftlicht werden können sowie auch keine mystischen Erfahrungen. Ken Wilbers Buch ist wegen fehlender wissenschaftlicher Fundierung nur ein Anstoß in die richtige Richtung.
Ken Wilber: Integrale Psychologie. Freiamt. 5. Auflage 2016