Die Frage, ob man Menschenkenntnis erwerben kann, muss mit Ja beantwortet werden. Sie ist elementar für unsere Zusammenleben
Wir häufen eine Menge Wissen an, das nicht immer Bildung bedeutet und nicht dazu führt, dass wir uns insgesamt besser verstehen. Es gibt sicher Menschen, die aufgrund ihrer Offenheit und ihrer Unvoreingenommenheit andere sehr gut intuitiv erfassen und ihre eigenen Werte auch immer wieder zur Disposition stellen können, auf jeden Fall können sie sich darüber auseinandersetzen. Wer seine Werte absolut setzt, wird schnell alt, starr und vielleicht sogar ein Menschenfeind, weil er das Andere nicht mehr erfasst und meint zum heroischen Verteidiger seiner Eingeschränktheit werden zu müssen. Glücklich macht das nicht, sondern stumpf und unsensibel für die Möglichkeiten guten Daseins und guten Willens anderer. Wer Bildung nur für den eigenen Vorteil instrumentalisiert, der wird das differenzierte und komplexe Dasein von Menschen nicht mehr begreifen. Der Mensch will aber verstanden werden; es ist ein Existenzial. Wer es aufgibt, hat resigniert, kann sich nicht mehr kenntlich machen mit Folgen für sein soziales Leben. Vielfalt und Pluralismus sind die Grundpfeiler der Demokratie. Hier herrscht viel Dynamik und möglichst auch viel Freiheit, das zu sein, was man zu sein beabsichtigt. Wir haben nicht das Recht, Wege zu verbauen wie in totalitären Staaten. Es gilt darauf zu achten, dass die Norm und die Vermassung nicht überhand nimmt. Auch Normen müssen immer wieder überdacht werden auf ihre förderliche Gültigkeit hin. Wir sehen an der zunehmenden Pathologisierung in entsprechenden Manualen wie DSM V die zunehmende Entwicklung von Normierung, die uns das Selbstverständnis nehmen kann. Es gibt nicht den rundum gesunden Menschen. Wir alle haben Probleme und müssen lernen, damit umzugehen, anstatt die Abweichung von der Norm zu diskreditieren auch durch Pathologisierungen. Das Umgehen mit den Einschränkungen der Gesundheit muss gelernt werden und darf nicht zum Anlass für Ausgrenzung und Selektion werden.
Potenzialentfaltung erlaubt den Diskurs
Sicher, wir wählen aus, wer zu uns passt und wer eher nicht. Aber es stellen sich auch andere Aufgaben der Toleranz und der Akzeptanz. Hier muss die Fähigkeit vorhanden sein, auch hinter die Fassaden zu schauen und den Kampf, den fast jeder führt, zu verstehen. Dieser Kampf kann bestenfalls sehr produktiv werden, wenn die Ziele geklärt sind und die Teleologie unseres Lebens Sinn und Bedeutung schafft. Menschen arbeiten an ihrer Existenz, wenn sie begriffen haben, dass nicht alles von außen kommt und vieles ungelebt bleibt, weil es nicht aufgegriffen wird durch Arbeit und Freizeit. Hierfür brauchen wir die Bildung, die uns keine Vorschriften macht, sondern uns Fragen stellt in Bezug auf das, was wünschenswert ist. Das lässt sich nicht immer konkretisieren, aber auf den allgemeinen Wert der Achtung voreinander vorläufig festlegen. Die verspielen wir erst dann, wenn Verbrechen begangen werden. Alles andere muss ausgehandelt werden und steht immer herausfordernd zur Debatte. Wer das Eigene entwickelt, der hat auch Verständnis für die Entwicklung anderer. Wer sich nicht entwickeln kann, der wird intolerant und ignorant. Deshalb ist es so wichtig, dem Einzelnen so viel Entfaltung wie nur möglich zukommen zu lassen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, der nicht erzwungen werden kann. Goethe hat uns darauf schon früh hingewiesen, aber es wird nicht viel dafür getan. Es kann nicht nur wenigen vorbehalten bleiben, das eigene Potenzial zu entwickeln, sondern muss früh bei allen gefördert werden, damit das Ausscheren aus einer Gesellschaft verhindert werden kann. Individualisierung ist also nie Vereinzelung oder Egoismus, sondern ein Phänomen der gesunden Selbstgewissheit, die eben auch viel geben kann, weil sie nicht behindert wurde durch vermeintliche Zwänge.
Jenseits des Perfektionismus
Menschenkenntnis ist so immer auch der Einblick in die tiefsten Sehnsüchte von Menschen, anerkannt zu werden und bestenfalls Menschen zu begegnen, die verstehen, dass wir nicht nur mit Resultaten konfrontiert werden dürfen, sondern mit Wegen, die ihre Berechtigung haben und die nicht lange erklärt und begründet werden müssen. So sind Lehrer nicht in erster Linie Informationsvermittler, sondern Menschen, die Fähigkeiten anstoßen und gesundes Selbstbewusstsein vermitteln müssen, das sich selbst auch immer wieder in Frage stellen kann, ohne etwas zu verlieren. Was den Menschen widerfährt, das können sie dann auch weitergeben. Menschenkenntnis ist auch immer ein Erschauen des Möglichen für die Bewältigung des eigenen Lebens. Ein Konkurrenzsystem ermöglicht genau diese Menschenbildung nicht. Es lässt den Blick auf anderes gar nicht zu, sondern wird auf Durchsetzung gegen andere etabliert und auf das Ausblenden, um die eigenen Ziele zu erreichen. Auch die Angst, Corona könnte die Berufschancen von Schülern beeinträchtigen, ist unbegründet. Die Zeit kann für Besinnung und Persönlichkeitsbildung genutzt werden jenseits des Hamsterrades und des Funktionalismus. Wir alle wollen etwas werden und im Werden möglichst wenig manipuliert werden auch für unsere Gesundheit und unseren Durchblick, der uns stark und unverwundbar macht. Eine Kultur der Fehlerkorrektur ist wünschenswert. Dafür sollten wir uns allgemein öffnen und die Strenge des Perfektionismus aufgeben.