Möglicherweise weichen wir aus, wenn wir Farbe bekennen sollten. Wir haben uns eingerichtet in der Komfortzone der Korruption. Eigentlich ging es uns mal um das Denken, sicher auch um die Wahrheit zumindest als Ausdruck des Authentischen. Wir wollten nie zu denen gehören, die nur nachplappern, was andere vorschreiben. Wir wollten selber denken und denen auf den Zahn fühlen, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen, anderen das Leben zu erschweren. Es gibt sie diese hinterhältigen Sadisten, die ihre Werte verraten haben, um gut zu leben. Es war mal Programm, sich nichts vormachen zu lassen, alles auf den Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen und vor allem skeptisch zu bleiben in Bezug auf Politik und dubiose Interessen.
Viele sehen sich nun Parteiprogramme herunterbeten, haben ihr Denken verbeamtet: Ich denke immer dasselbe, also bin ich sicher. Sie haben jede Sensibilität verloren, merken nicht wie sie zu Gehilfen von Interessengruppen mutieren und sich gegen die Menschlichkeit richten. Sie sind wirklich keine Menschenrechtler geworden, sondern ungerechte Wichtigtuer, die unbedingt auf der richtigen Seite stehen wollen. Eigentlich sind sie alt und langweilig, aber leider auch in ihrem Mitläufertum gefährlich und entsetzlich enttäuschend. Sie wollen uns nicht den Schutz der Vielfalt garantieren, sondern die selige Einfalt des Immergleichen. Sie haben sich geduckt und erwarten das nun von jedem. Kein Aufschrei der Empörung kommt mehr über ihre Lippen. Sie lassen die Dinge geschehen und suchen auch noch gute Argumente für ihre Verweigerungen. Ja, man hätte Ihre Hilfe gebraucht, die hätte nichts gekostet außer eben Zivilcourage. Es gibt eine Rationalität der kleingeistigen Mutlosigkeit. Wir sind zu schwach, wirklich mit ganzem Herzen Denkende zu sein. Deshalb werden faule Kompromisse eingegangen, die nichts ändern, die Sache eigentlich nur verschlimmern. Jetzt werden fragwürdig gewordene reaktionäre Werte gepredigt gegen Menschen, gegen die Freiheit, gegen das Glück, gegen die Entfaltung und damit gegen das Denken.
Es kommt nicht mehr zu Interferenzen zwischen einem Gesetzten und einem, der gezwungen ist, die Ungerechtigkeiten und Unzulänglichkeiten zu durchschauen, damit er überlebt. Er kämpft um sein Dasein, während der Andere immer merkwürdigere Bekannte um sich herum ansammelt, die ihn in seiner Blindheit bestätigen. Er hatte einmal Augen zu sehen, was wirklich zählt. Jetzt kriecht er denen hinterher, die sich eingerichtet haben im Verschleiern von Tatsachen in der Hoffnung, dass das keiner merkt. Wir sind ein armes Volk von Dummköpfen geworden und nehmen so vielen Menschen die Chance auf Heilung von falschen Behandlungen, falschen Einschätzungen, falschen Ratschlägen und falschen Leben. Wir lassen die Konkurrenz hoch leben und vergessen die Kooperation, wo sie denn noch möglich ist. Die Kritik wird verteufelt. Sie aber will die Bewegung, die Entwicklung, die Besserung. Ohne sie dümpelt alles im Halbschlaf dahin. Ein betagter Mann wie Stéphane Hessel hatte zur Empörung aufgerufen, aber wir werden angehalten, froh zu sein über fließendes Wasser, ausreichende Nahrungsmittel und einem Dach über dem Kopf. In der Bildung hält der Geldadel Einzug, nicht aber die Geisteselite. Die zieht sich mehr und mehr aus dem akademischen Betrieb zurück. Wir finanzieren aufwendige Forschungen, um sie dann nicht in humanere Innovationen umzusetzen. So werden wir schon lange betrogen und viele müssen das mit ihrem Leben bezahlen.
Wir träumen aber weiterhin von Helden, die uns retten werden. Wann werden wir begreifen, dass wir diese Helden selbst sein müssen, damit wir uns morgen noch im Spiegel ansehen können. Die geistigen Schrebergärten nehmen überhand. Aus solchen Sackgassen soll der Mensch den Menschen befreien. Das wäre eine christliche Botschaft und ein Erwachen im westlichen Sinne. Wir führen keine informellen Kriege mehr, sondern reichen uns die Hand, um wieder ganz authentisch zu werden wie damals, als wir noch Flügel hatten und uns nichts aufhalten konnte, diese Welt zu einer besseren zu machen. In dieser Haltung leben wir die Idee von Jesus Christus weiter, hierin ist er unsterblich mit uns verbunden. Erinnern wir uns an diesen hohen Wert, bevor wir uns weiter hinter Wertlosem verschanzen und auf dem bestehen, was ins Unglück führt.
Ratlos stehen wir vor den Trümmern unserer Hoffnungslosigkeit. Wir haben alles getan, um den Traum zu zerstören und glauben, das sei Vernunft. Die Stimme der Nächstenliebe sagt nichts mehr. Sie ist zur hohlen Phrase geworden. Die Nächstenliebe handelt und spricht und verurteilt nicht, was sie gar nicht beurteilen kann. Sie redet nicht so viel von Gerechtigkeit, wo keine ist. Sie findet ihren eigenen inneren Weg zum anderen und lässt sich nicht beirren von fehlendem Menschenvertrauen. Vernunft ist der Mut, sich einzulassen, ohne seine Werte zu verraten. Niemand hat das erwartet und alles Erdenkliche wurde getan, damit es gut ausgeht und klare Verhältnisse herrschen. Der eine hat Ersatz gefunden, der Andere weiß, dass niemand durch einen anderen ersetzt werden kann. Nein, das ist nicht das Denken, das man im Sinn hatte und womit ein ganzes Lebensgefühl verbunden war. Die Briefe ach so vieler geistreicher Korrespondenzen, die Literatur, die vielen freien Denker, die sich keinen Zwang angetan haben – sie alle wollen wir um Rat fragen, wiederentdecken, damit sie uns helfen gegen den zunehmenden Irrsinn des ganz realen Lebens.